Du betrachtest gerade Teil 4: Wahr oder Lüge? Über „Kairos“, Chronos“ und Anpassungsdruck, der die Seele zerstört

Die Geschichten um Hans und Katharina in „Kairos“ und die Geschichte von Otze in der Oper „Otze Axt“ sind erschütternde Zeugnisse der zerstörerischen Wirkung von Anpassungsdruck und Unterdrückung auf das Leben eines Einzelnen. Bei den Helden der Geschichten zeigt sich „Kairos“ als  glücklicher Augenblick, in einem „Meer von Zeit“ oder wie es Erpenbeck selbst definiert „Der Gott Kairos wird als Wesen mit einer Locke vorn an der Stirn dargestellt, an der man ihn packen und halten kann. Ist er aber einmal vorübergeglitten, präsentiert er einem die kahle Hinterseite seines Schädels – und entwischt. Die Gelegenheit beim Schopf packen, das erfordert Eingebung, Intuition, auch Mut“.

Es ist die Gleichzeitigkeit zweier unterschiedliche Erzählweisen, die Erpenbeck fasziniert und die in „Kairos“ zum Tragen kommt. Im Hugendubel Magazin, unter der Überschrift „Requiem auf eine Amour fou“, erklärt sie: „Chronos, die Zeit, schreitet voran – das können wir an unseren Uhren ablesen. Zugleich hat jeder Augenblick eine Tiefendimension. Hat Bezüge zur Vergangenheit und zur Zukunft, ist Teil der Lebensgeschichte anderer Menschen. Manche dieser Bezüge erfahren, verstehen wir irgendwann, manche nie“.

Katharina wird später mit dem Nachlass der gemeinsamen Jahre 1986 bis 1992 konfrontiert. Dabei spielen Kairos und Chronos eine Rolle, indem der Tod von Hans alte Fragen noch einmal neu und anders stellt. So sagt Erpenbeck: „Aus dem Jenseits einer alten Geschichte, aus über 30 Jahren Abstand, werden plötzlich Strukturen sichtbar. Der glückliche Augenblick ist eine Wahrheit. Die Jahre nach dem glücklichen Augenblick sind auch eine Wahrheit. Beides ist von Gewicht“.

Katharina hat aus ihren Erfahrungen gelernt und kann die Trauer überwinden, die das Ende einer gelebten Zeit mit sich bringt. Anders Otze, er verkörpert einen Rebellen, der mit allen Kräften versucht, seine Individualität zu bewahren – und zerbricht innerlich daran.

Den Protagonisten der vorgestellten Erzählungen ist gemeinsam, dass in der DDR das gesellschaftliche Leben durch ein striktes System der Kontrolle geprägt war. Der Anpassungsdruck durch Staat und Gesellschaft war allgegenwärtig, ein krampfhafter Versuch, die Stabilität des Regimes zu sichern. Menschen wurden gezwungen, sich den staatlich definierten Normen zu fügen, und jede Abweichung wurde als Gefahr angesehen. Die Stasi überwachte, bespitzelte und unterdrückte rigoros, um sicherzustellen, dass niemand aus der Reihe tanzte. Dieser immense Druck zerbrach die Menschen schleichend: Das Selbstwertgefühl wurde zerstört, wenn man nicht den Erwartungen entsprach, und der Traum von Individualität erschien unerreichbar.

Otze, der sich durch seinen Punk-Lebensstil bewusst von der Masse abhebt, wird für das System zur Bedrohung. Die DDR erstickt sein Rebellentum – jene letzte Bastion, in der er seine innere Freiheit sucht – indem sie ihn zwingt, als inoffizieller Mitarbeiter seine Freunde aus der Punk-Szene zu verraten. Dieser Verrat nimmt Otze nicht nur seine Gemeinschaft, sondern auch den letzten Rest seines Selbstwertgefühls. Sein verzweifelter Versuch, sich anzupassen, scheitert an den unerbittlichen Strukturen eines Systems, das ihm jeglichen Sinn und Halt raubt.

Und dann fällt die Mauer. Für einen kurzen Moment scheint Freiheit greifbar zu sein, doch die Ernüchterung folgt schnell. Otze wird durch die Umstellung auf die neuen gesellschaftlichen Strukturen in der BRD erneut herausgefordert. Sein Punk-Dasein, einst ein Mittel des Widerstands, wird zu einer Last, die ihm große Anpassungsschwierigkeiten bereitet. Der Wunsch, in der Gesellschaft Fuß zu fassen, bleibt unerfüllt. Er ist wie Peter Pan – gefangen in seiner Rebellion, unfähig, in der neuen Welt „erwachsen“ zu werden und seine Identität in einen neuen Lebensabschnitt zu retten. Die alte Struktur, die ihn unterdrückt hat, ist weg, doch der Übergang in die Freiheit bringt für ihn keine Erlösung, sondern tiefe Sinnlosigkeit.

Als sein Leben vollständig aus den Fugen gerät, entlädt sich seine Verzweiflung in einem Moment der Tragik. Der Mord an seinem Vater – jener Mann, der für ihn zum Symbol der verhassten DDR geworden ist – ist ein Akt des endgültigen inneren Zusammenbruchs. Otze, der gegen ein System kämpfte, das ihn formte und zerstörte, sieht keinen Ausweg mehr. Die erdrückenden Strukturen der Vergangenheit, gepaart mit der Orientierungslosigkeit der neuen Realität, zerfressen ihn. Seine letzte verzweifelte Tat ist ein erschütterndes Symbol für die zerstörerischen Folgen von Unterdrückung und dem Verlust jeglichen Sinns.

Katharinas Geschichte zeigt, dass ein Mensch gerade durch Anpassungsdrucküber sich hinaus wachsen kann. Otzes Geschichte erinnert den Zuschauer daran, wie sehr Menschen am Anpassungsdruck zerbrechen können – eine Mahnung, welche die Gesellschaft nicht ignorieren darf. Freiheit und Individualität sind kein Luxus, sondern essenziell für das Überleben der menschlichen Seele.

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