Du betrachtest gerade Literaturwissenschaftlerin Lea Liese: „Von der ‚urban legend‘ zum Verschwörungsgerücht“

Lea Liese ist eine Literaturwissenschaftlerin an der Universität in Basel. In unserem Projekt „Halbwahrheiten“ kommen Ihre Aussagen zu „urbanen Legenden“ zum Tragen. Der Begriff ist in den 1960ern von Richard Dorson eingeführt worden und seitdem unter dem Stichwort „moderne Sagen“ in kulturanthropologischen Erzählforschungen von großer Bedeutung. Trotz fehlendem einheitlichen Klassifikationsschema kann man sie als mündliche Alltagsgeschichten verstehen, die auf „aktuelle, lokalisierbare Ereignisse bezogen werden und einen eher unheilvollen Ausgang nehmen. Diese anekdotischen Erzählungen berichten über ungewöhnliche Ereignisse, die aber tatsächlich geschehen sein sollen.

Lea Liese beschreibt die urban legends, als ein überregionales bis globales „Wanderphänomen“, das vermehrt in der weißen anglo-amerikanischen Kultur anzutreffen ist. Sie bezieht sich auf Michael Butter, der über Verschwörungstheorien schreibt und überträgt dies auf urban legends :

Sie ähneln modernen Sagen, versuchen unerklärbar erscheinende Vorgänge durch symbolisierende Darstellung zu deuten, geben den alten Sagen ‚einfache Form‘ und stehen in der Forschung für einen universal gültigen Code für kulturübergreifende Erzählverfahren.

Weitere Kriterien liefere auch Helge Gerndt, so Liese: moderne Sagen machen moderne Realitäten aus, lösen Horizonte (räumlich, zeitlich, sozial) auf, steigern die „Variabilisierbarkeit“ (ungebremste Reproduzierbarkeit und Ausschöpfung im Bereich der Produktentwicklung, aber auch im Erzählverhalten), pluralisieren allgemeine Lebenslagen. Sie dienen der Bewältigung der als krisenhaft wahrgenommene Gegenwart, schaffen dazu eine Vergangenheit, die mit der gegenwärtig vorgefundenen Realität kompatibel ist. Damit ähneln sie Verschwörungstheorien, weil diese Verschwörungen nicht unmittelbar beobachtbar sind, nur vom ‚Hörensagen‘ bekannt sind, gehörte die „Narrativierung“ zu ihren genuinen Instrumenten.

Das wahrheitsheischende Erzählen, sogenanntes „truth-based-labeling“, eint modernen Sagen und Verschwörungstheorien. Wie wir schon bei Nicola Gess und ihren Ausführungen zu „Halbwahrheiten“ erfahren haben, geht es nicht um einen „Wahrheitscheck“, sondern um den „Fiktionscheck“;  was Menschen für wahr halten, was möglich und plausibel scheint, aber nicht unbedingt bewiesen werden muss. Gemein ist die Feindbildkonstruktion, ein typisches Gattungsmerkmal einer urbanen Legende. Sie liefern neben vereinfachten Erklärungsmustern auch Sündenböcke. Beispiele findet Liese in den so bezeichneten „food contamination stories“, die nicht ausschließlich in so stilisierten ‚kulturfremden‘ Ländern, sondern auch in den westlichen Industriestaaten zu finden seien und sich gegen milliardenstarke Unternehmen und global players wie McDonald’s oder Kentucky Fried Chicken richten würden.

Dabei gehe es diesem Typus von urban legends weniger um das populistische Narrativ vom „skrupellosen und rücksichtslosen kapitalistischen Großkonzern“ („unscrupulous companies“), sondern um konspirationistische Tendenzen.  Den handelnden Akteuren ginge es über bloße Profitgier hinaus um politisch-ideologische Ziele.  Sie gehörten vielleicht sogar mächtigen Geheimverbünden an. So würden nicht nur Rattenschwänze zu Chicken Nuggets verarbeitet („Kentucky Fried Rat“), sondern der McDonald`s Corporation-Gründer Ray Kroc, sei Mitglied eines im Verborgenen operierenden und breit vernetzten Satanistenrings und der Erfolg des Hamburger-Franchises sei auf dessen Unterstützung zurückzuführen. Konkret verschwörungstheoretisch sei, so Liese die urban legend, der Fast-Food-Konzern, Church’s Fried Chicken werde heimlich vom Ku-Klux-Klan betrieben. Dieser verfolge das Ziel, durch Verfälschung des Hähnchenrezeptes, schwarze männliche Konsumenten durch den Verzehr automatisch zu sterilisieren.

Auch ein europäisches Gerücht von 1978 besagt, Orangen aus Israel seien mit Quecksilber verseucht worden, um die Wirtschaft und den Friedensprozess im Nahen Osten zu sabotieren.  In dieser Stilisierung, so Liese, geht es um die Skepsis gegen kapitalistische global players und das Ressentiment gegen Juden als vermeintliche „Globalisten“. In ihrer vermeintlichen Allianz verbinden sie sich rechtspopulistischen Eliten- bzw. Feindbild. Die Annäherung zwischen urban legends und antizionistischen oder antisemitischen erschwörungstheorien zeige ebenfalls  die Geschichte von der „Jewish secret tax“. Da seien Lebensmittelunternehmen und unwissende Verbraucher:innen gezwungen worden, Geld zu zahlen, um das Judentum oder zionistische Anliegen und Israel durch die Kosten der ‚Koscher-Zertifizierung‘ zu unterstützen.

Quelle: Von der ‚urban legend’ zum Verschwörungsgerücht. Die Politik moderner Sagenbildung“. In: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung, Heft 1-2/2024, 55–72.DOI: https://doi.org/10.1515/fabula-2024-0003

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