Du betrachtest gerade „Don Giovanni“ Inszenierung Karsten Wiegand am Staatstheater Darmstadt – Gedanken zu Freud, Trieb und dem Raubtier im Menschen

Ein Zuschauer hat die Wiederaufnahme von „Don Giovanni“ am 06. 09. 2025 am Staatstheater Darmstadt mit besonderem Interesse verfolgt — weniger als Opernliebhaber, mehr als kritischer Beobachter seelischer Dynamiken. „Don Giovanni“ löste bei ihm große Emotionen aus. Denn er erscheine nicht nur als Verführer, sondern als ein lebendiges Tierbild, ein Leittier und zugleich ein Alphatier, dessen Anwesenheit wie ein Spiegel für die inneren Zustände der anderen Figuren wirke.

Liebe Leser des Blog UniWehrsEL,

Mich leitet die Frage, vereint Don Giovanni das triebhaftes Alphatier mit dem einsamen Wolf in sich? Insofern analysiert mein Text das Animalische in der Figur Don Giovannis — passend zum Winterseminar „Anima(l)“: Tiere als Spiegelbilder menschlicher Seelenzustände. Diese Facette konnte ich auch schon anhand des Beitrags von I. Burn zur Aufführung zu „Don Quichotte“ nachvollziehen.

Als Zuschauer lese ich den Darmstädter Don Giovanni gern durch die Brille Freuds: Triebe, Unbewusstes und das Pulsieren der Libido erklären vieles von dem, was die Figuren antreibt. Wenn Don Giovanni als gefährliches Tier betrachtet wird — Raubtier, vielleicht gar einer tödliche Giftschlange entspricht — so nimmt man doch häufig an, dass er seinen „Genossen“ nichts antun wird; seine Angriffe zielen eher auf das Verlockende, das Verbotene, auf die Projektionsfläche für die anderen Figuren. Diese Parallele zeigt sich deutlich: Freuds Vorstellung vom „Es“ als triebhafter, ungezügelter Anteil der Psyche entspricht dem animalischen Impuls, der Don Giovanni antreibt, während das Ich und das Über-Ich — Gesellschaft, Moral, der Komtur — versuchen, Ordnung zu schaffen und  gesellschaftliche Grenzen zu ziehen.

Auch lege ich meinen Überlegungen die neuesten Forschungsergebnisse zugrunde, nach denen Tiere nicht mehr nur als Objekte, sondern als Subjekte, Akteure und Individuen wahrgenommen werden. Gemeinsam ist nun bei Mensch und Tier, hier verweise ich auch auf die „Human-Animal Studies“, dass beiden ein intrinsischer Wert zugesprochen wird. Auch wenn zuweilen in Publikationen von menschlichen und nichtmenschlichen Tieren gesprochen wird, verstärkt dies eigentlich nur die Ansicht, der Mensch sei letztlich ‚nur‘ ein Tier unter vielen. In der Literaturkritik zu „Von Menschen und Tieren“ wird beschrieben, „Sigmund Freud bezeichnete die Abstammung des Menschen vom Affen in seinen drei „Kränkungen der Menschheit“ als „die zweite, die biologische Kränkung des menschlichen Narzißmus“.

Auch im Beitrag zu Vera Müller-Skuplik wurden Paralellen zwischen Mensch und Tier in der Trauerkultur beschrieben.

Doch zurück zu Don Giovanni. Er ist in meinen Augen vor allem triebhaft, seine Libido dirigiert sein Handeln. Seine sexuelle Kraft und seine Potenz treten als fast animalische Energie auf: ähnlich einem Raubtier, das instinktiv Beute wählt, sucht er Bestätigung. In der Verführungsszene mit Zerlina wird dieses Animalische besonders deutlich: Don Giovanni nähert sich wie ein Rattenfänger mit geheimnisvoller Aura, verführt nicht nur mit Worten, sondern mit einer Suggestivkraft, die Zerlina ihre gewohnten Grenzen vergessen lässt. Sie, ein einfaches Bauernmädchen, sieht in ihm die Möglichkeit, aus ihrer Rolle herauszutreten — er ist das verlockende Versprechen eines anderen Lebens. Seine Präsenz weckt in ihr ungeahnte Potenziale: Bin ich, wer ich sein will oder bin ich, was ich sein muss?

Don Giovanni ist Verführer und Genussmensch. Freud würde sicherlich bei ihm einen Eroberungszwang attestieren. Unter dem „Don-Juan-Syndrom“ versteht man, wie die Psychologin Sonja Rieder wissen lässt, „eine spezielle Art von Bindungsstil, eine Art, Liebe zu suchen, die sich in einem permanenten Eroberungszwang ausdrückt. Ist die Eroberung geglückt – das macht man meistens an einer sexuellen Eroberung fest – dann verlieren Betroffene schnell das Interesse am Gegenüber, lassen es fallen, sind nicht mehr interessiert, antworten nicht mehr. Heute würde man das ‚Ghosting‘ nennen.“ Tina Soliman schreibt darüber in ihrem gleichnamigen Buch mit dem Untertitel „Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter„.

Die Kombination aus Charme, Status (wohlhabend, adelig, gut aussehend) und der ungebremsten Triebhaftigkeit macht ihn für Zerlina so gefährlich wie unwiderstehlich: wie ein Alphatier, dessen Duft und Haltung Herdeninstinkte in ihr aktiviert — sie kann seiner animalischen Kraft nicht widerstehen, weil sie in ihm ein Bild von Freiheit und Verheißung sieht. Sie, auf die Don Giovanni auf einer Bauernhochzeit ein Auge geworfen hat, treffen seine ungezügelten Machenschaften besonders hat.

Ich möchte Sie herzlich um Ihren Kommentar unter Kontakt bitten!

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  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:12. September 2025
  • Lesedauer:6 min Lesezeit