Binge Watching: Serie „Severance“, Dystopie einer Marionettenwelt ohne Entkommen
Binge Watching als ein neues Phänomen zu bezeichnen, ist eigentlich „alter Wein in neuen Schläuchen“. Denn Fernsehserien zu schauen begann schon bei „Lassie (1954)“ und Flipper (1964)“. Die Fans fieberten mit Hochspannung der wöchtentlichen Fortsetzung ihrer Lieblingsserie entgegen. Inzwischen gibt es den unwiderstehlichen Drang, die Sucht, ganze Feierabende, Nächte, Wochenenden mit Seriengucken zu verbringen. So schreibt ein eingefleischter Serienfan dem UniWehrsEL davon, wie sehr ihn die erste Staffel von „Serverance“ als psychologisches Gedankenexperiment und als visuelle Studie zur Entfremdung von Mensch und Arbeit tief beeindruckt und zutiefst beunruhigt hat.
Liebes UniWehrsEL,
In der Workplace-Dystopie Severance, die auch von der „Zeit“ als Empfehlung für gezieltes Binge-Wathing auftaucht, geht es um die sogenannte Vereinbarkeit von Arbeitsleben und Freizeit, die schlicht abgeschafft worden ist. Meine Frage resultiert daraus: Wie wirkt eine Welt, in der ein Konzern Menschen wie Marionetten behandelt?
Das wiederum ruft spontan Assoziationen zu einem anderen dystopischen Mehrteiler hervor, in dem es auch um Manipulation, Korruption und mögliche Formen des Widerstands geht. Fassbenders „Welt am Draht“ war in den 70er Jahren ein Straßenfeger.
Die Welt, die der Lumon‑Konzern hier baut, wirkt wie eine überzeichnete, albtraumhafte Puppenstube: makellos eingerichtete Büroräume, endlose Flure und ein rigides Ritualwesen, das aus der Distanz betrachtet an eine perfekt arrangierte Puppenwelt erinnert. Doch hinter der sauberen Oberfläche hängt an jedem Strick ein Mensch. Wer zieht hier die Fäden?
Die Serverance‑Prozedur, durch die Mark Scout und sein Team geht, ist psychologisch eine radikale Form der gespaltenen Persönlichkeit: Mark hat sich einen Chip implantieren lassen, der sein Ich in zwei voneinander isoliert Existenzen teil — ein abgeschottetes Arbeits‑Mark (Mark 2) und ein privates Mark (Mark 1). Keines der beiden Marks kennt die Erinnerung des anderen Ichs.
Das ist die Überspitzung der perfekten Work‑Life‑Balance: Arbeitszeit und Privatleben sind streng getrennt — auf dem Papier ein vernünftiger Plan, in der Realität eine Angestellten‑Dystopie, in der Menschen zu Puppen am Strick werden.
Die Serie Severance spiegelt die veränderte Einstellung zur Arbeit und die Frage nach dem Sinn von Arbeit in einer postmodernen Arbeitswelt wider. Besonders in Zeiten wie während der Corona-Pandemie wurde sichtbar, wie stark sich Arbeitsbedingungen und -strukturen verschieben: Viele Beschäftigte durften nicht mehr ins Büro und erledigten ihre Aufgaben im Homeoffice — eine Erfahrung, die das Verhältnis von Identität, Präsenz und Kontrolle im Arbeitsleben neu justierte.
Mark ist ein Mittvierziger. Er trägt täglich den selben blauen Anzug. Er wirkt unscheinbar. Es erscheint ungewöhnlich, dass ausgerechnet Mark zum Abteilungsleiter aufgestiegen ist. Sein Vorgänger war sein bester Arbeitskollege. Er ist plötzlich aus der Arbeitswelt von Lumon verschwunden. Statt des Freundes und vertrauten Kollegens muss Mark Helly einarbeiten, die sich als unkooperativ erweist.
Dieses Rätsel, warum sein Freund verschwand, lässt Mark keine Ruhe und weckt in ihm Zweifel an seinem Büroleben. Sein Privatleben verbringt Mark1 in einem karg eingerichteten Wohnhaus. Er hat eine Schwester und einen Schwager, der Schriftsteller ist.
Wie der Zuschauer im Laufe der Serie erfährt hat Mark1 ein Trauma erlebt, das ihn zu dem Entschluss geführt hat, seine Existenz in zwei Marks aufzuteilen, um sich selbst zu schützen. Er war ein Geschichtslehrer und hat seine Frau bei einem Autounfall verloren. Das ließ ihn die verhängnisvolle Entscheidung treffen, sich selbst aufzuspalten.
Psychologisch betrachtet greift „Severance“ damit ein Spektrum schwerer Krankheitsbilder auf, die mit Dissoziation einhergehen, wie z.B. Dissoziative Störung, dissoziative Identitätsstörung, Persönlichkeitsstörung, gespaltene Persönlichkeiten, multiple Persönlichkeit.
Die Figuren funktionieren wie Playmobil‑ oder Schachfiguren auf einem Firmenschachbrett: Helly R., Irving, Dylan und Mark selbst bewegen sich in vorgegebenen Bahnen, geführt von Ritualen, Geboten und Strafen — eine Mischung aus Museum für Firmengründer‑Mythos und biblisch anmutender Moral, serviert in kindlich‑sauberer Ästhetik. Wer kontrolliert das Spiel? Harmony Cobel, die Abteilungsleiterin mit dem kalten Grinsen und silbernem Haar, erscheint maskenhaft, wie eine Puppenmutter, die kontrolliert, bewertet und bestrafen lässt. Macht ihre Präsenz den Arbeitsplatz zur Puppenstube, in der jeder Fehler eine Sanktion nach sich zieht?
Psychologisch spannend ist, wie das System Lebenssinn aushöhlt: Mark ordnet den ganzen Tag Zahlenreihen nach schwammigen Kriterien, ohne je zu wissen, warum — eine existenzielle Frage steht im Raum: Was ist ein Mensch ohne seine Erinnerung? Wird Arbeit zur sinnleeren Handlung, wenn der Zweck verschleiert bleibt? Die Arbeitsaufgabe verliert jede inhaltliche Bindung, und das Individuum reduziert sich auf Funktion und Regelbefolgung: „stell keine Fragen, mache, was man dir aufträgt, gib hundert Prozent.“ Welche Folgen hat ein solches Zwangsprogramm für die Seele? Dieses System erzeugt eine surreale, atemlose Stimmung — trifft die Serie damit nicht genau die Verwundbarkeit moderner Arbeitswelten?
Helly ist rothaarig, trägt ein knallblaues Kleid und sieht aus wie ein Model — könnte sie nicht auch eine Barbie sein? In der grauen Abteilung voller durchschnittlicher Männer sticht sie wie eine perfekt gestylte Puppe hervor, wirkt aber fehl am Platz. Welches Geheimnis trägt sie mit sich? Sie stellt den anderen Angestellten rund um Mark gezielte Fragen wie was ist wen ich es hier hasse und raus will – geht das überhaupt? Im Gegensatz zur Barbie aus dem Film mit Margot Robbie — die selbstbewusst, zielstrebig und optimistisch wirkt — ist Helly brüchig und ungeschliffen. Warum ist sie so zerrissen? Barbie strahlt Kontrolle; Helly ist impulsiv, wütend und voller Zweifel. Äußerlich die makellose Hülle, innerlich der Kampf um Freiheit: Kann eine perfekt aussehende Puppe sich von ihren Fäden befreien? Dieses Spannungsfeld macht Helly zur eigentlichen Störkraft in Lumons Puppenstube.
Helly als Störfaktor ist dramaturgisch und psychologisch zentral: Will sie wirklich nur den Chip ausschalten und kündigen? Ihr radikales Verhalten (Selbstverletzungsandrohungen, Selbstmordversuche im Aufzug) liest sich wie verzweifelte Fluchtversuche einer Puppe, die sich ihrer Fäden bewusst wird und sie zerreißen will. Welche Wirkung hat ihr Mut auf Mark und das Team? Ihre Aktionen wecken in ihnen das Verlangen, die gesperrten Erinnerungen zu öffnen und die Wahrheit hinter Lumon zu ergründen. Macht das die Serie zu einer Parabel über die Suche nach Sinn in einer zunehmend entmenschlichten Arbeitswelt?
Regelverstöße werden nicht mit gewöhnlichen Sanktionen beantwortet, sondern mit einer bizarren Form von „Umerziehung“: Der sogenannte Pausenraum fungiert als Verhör- und Bestrafungsort. Dort setzen die Betreuer — personifiziert durch die Figur Milchshake — psychologischen Druck ein. Mitarbeiter werden gezwungen, monotone Wiederholungen zu leisten, ein Mittel, das an Gehirnwäsche grenzt und die Autonomie der Betroffenen untergräbt. Besonders deutlich wird das bei der neuen, widersetzlichen Mitarbeiterin Helly: Sie protestiert gegen die Regeln, bis sie ins Verhörzimmer gerufen wird.Mark, ihr Kollege und Vorgesetzter, übernimmt bei seinem ersten Verstoß die Verantwortung, eine Handlung, die Solidarität und Schuldübernahme kombiniert. Gleichzeitig zeigt die Figur Milchshake eine doppelte Funktion: Als Vollstrecker von Bestrafung ist er erschreckend kalt, aber er organisiert auch Belohnungen — etwa eine Party, die nach einer erfolgreichen Monatsaufgabe das graue Großraumbüro in eine flackernde Disco verwandelt. Diese Belohnungsrituale schaffen kurzfristige Erleichterung und Loyalitätsbindung, sind aber keine echte Befreiung: Selbst in der vermeintlich harmlosen Party-Szene bleibt die Bedrohung spürbar, weil Kontrolle und Gewalt subtil fortbestehen.
Serverance ist formal und inhaltlich bemerkenswert: Welche Bilder bleiben im Gedächtnis? Die Serie bietet viele visuelle Ideen — sterile Flure, labyrinthische Abteilungen, das Spiel mit Licht und Objekten — die die psychologische Konzeption unterstützen. Warum wirkt die Technik so retro? Computer, die aussehen, als stammten sie aus der Steinzeit des Computerzeitalters, verstärken die Zeitlosigkeit und Fremdheit des Ortes. Das fiktive Setting mit seinen kindlichen Belohnungssystemen, Hausbräuchen und Ritualen wirkt wie eine inszenierte Puppenwelt, in der Erwachsene zu Spielzeugen degradiert werden.
Aus psychologischer Sicht wirft die Serie dringliche Fragen auf: Welche Identität bleibt, wenn Erinnerungen ausgespart sind? Wie viel Autonomie hat ein Mensch, dessen Entscheidungen von einer Firma gesteuert werden? Und wie reagiert die Psyche, wenn Intimität und Arbeit vollständig voneinander abgetrennt sind? Serverance zeigt, dass die Antwort nicht nur erschreckend, sondern auch zutiefst menschlich ist — denn trotz aller Kontrolle regen sich Widerstandsformen: Kleine Unruheherde, Zettel mit „Ich will hier nicht arbeiten“, heimliche Fragen, das Verlangen, die Puppe abzulegen.
Was würden Sie tun, wenn Sie plötzlich in einer Puppenstube aufwachen?
Abschließend: Serverance ist mehr als nur eine düstere Zukunftsvision. Die Serie verbindet Stil und Psychologie, um zu zeigen, wie Arbeit die eigene Persöhnlichkeit formen und zerstören kann. Sie warnt davor, Entfremdung einfach hinzunehmen: Wenn Menschen zu Spielzeugfiguren werden, sind nicht nur die Flure leer — dann steht das Menschsein selbst auf dem Spiel.
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