Du betrachtest gerade „Das Tierische im Menschen“ – Haben wir vergessen, unser inneres Tier zu leben?

Referat an der U3L am 17. 12. 25 von Heiner Schwens

Der Philosoph Markus Gabriel, Autor von „Der Mensch als Tier„, sagt: „Der Mensch ist das Tier, das keines sein will“. Der Philosoph Robert Harsieber fragt in „Das Tierische im Menschen“ nach unserer Abneigung gegen das Tierische in uns. Wir sprechen nur ganz verschämt vom Menschen als „animal rationale“ (lat. Bezeichnung für den Menschen, die ihn als „vernunftbegabtes Tier“ definiert). Wir betonen das „rationale“ und schieben das „animal“ lieber unter den Teppich. Wir schämen uns des Animalischen, warum?

Seit Aristoteles benutzt die Philosophie diese Definition, um die menschliche Vernunft und Sprache als zentrale Eigenschaften hervorzuheben, die den Menschen von Tieren unterscheidet. Immanuel Kant entwickelte diese Idee weiter und betonte, dass der Mensch durch Bildung und Erziehung erst seine Vernunftfähigkeit entwickeln und so vom „animal rationabile“ (vernunftfähig) zum animal rationale (sprach-und vernunftbegabtes Wesen) werden muss. Ursprünglich stammt diese Definition aber tatsächlich von Aristoteles und seiner griechischen Bezeichnung „zoon logon echon“ (Sprach- oder Vernunft-Tier) als Übersetzung aus dem Lateinischen animal rationale.

Worin liegt ihre Bedeutung?

Die Bedeutung liegt in der menschlichen Fähigkeit zur Vernunft, zum Denken, zur Sprache und zur Organisation in Gemeinschaften (zoon politikon). Diese Bedeutung wird nicht von allen Philosophen unterstützt. Für Martin Heidegger (Dt. Philosoph 1889-1976) wird der Fokus stark auf die Rationalität gelegt, für ihn ist die Geschichtlichkeit die grundlegende Bedingung der menschlichen Existenz.

Exkurs:

Was versteht Heidegger unter Geschichtlichkeit? Sein Begriff der Geschichtlichkeit gründet darin, dass das menschliche Dasein grundlegend historisch ist und sich seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft selbst entwirft. Die menschliche Existenz, also das Dasein, ist für ihn untrennbar mit Zeitlichkeit verbunden. Zeit ist nicht etwas, das von außen auf das Dasein einwirkt, sondern das Dasein ist in seinem Wesen zeitlich. Seine Vergangenheit ist nicht einfach vorbei, sondern geht ihm als „Gewesenheit“ voraus und beeinflusst sein gegenwärtiges Handeln und seine zukünftigen Entwürfe.

Harsieber beschreibt den Menschen als ein Glied in der Evolution, dessen Genom kaum über das der Tiere hinausgehe. Als ein Glied in der Evolution geht das Genom, also die Gesamtheit aller Erbinformationen eines Lebewesens, in diesem Fall des Menschen, kaum über das der Tiere hinaus. Das Rationale betonen wir daher als etwas Besonderes. Dem ist jedoch nicht so, da auch Tiere rudimentär, also in Ansätzen oder unvollständig, rational sind.

Er greift C. G. Jung auf (1875-1961). Der Schweizer Tiefenpsychologe, hielt über viele Jahre seine Träume, Visionen und Fantasien in einem Tagebuch, das „Rote Buch“, fest. Zu dem „tierischen“ Thema schreibt er: „Der Mensch ist das Tier, das sich selbst über- und unterschreiten kann -, das sich gegen die eigene Art und gegen sich selbst wenden kann“. Damit beschreibt er etwas, was seiner Meinung nach beim Menschen in der Evolution völlig neu ist.

Weiterhin schreibt Jung:

„Das Tier empört sich nicht gegen seine Art (…). Das Tier lebt sittsam und getreu das Leben seiner Art und nichts darüber und darunter (…) Wir stecken voller Vorurteile, wenn es um das Tier geht. Die Leute verstehen mich nicht, wenn ich ihnen sage, sie sollen sich mit ihren Tieren vertraut machen oder sich ihnen anpassen. (…Tiere) folgen mit schöner Regelmäßigkeit ihren Weg, sie tun nichts Ausgefallenes. Nur der Mensch ist ausgefallen“.

C.G. Jung: Das Rote Buch. Der Text. Edition C.G. Jung. Ostfildern, Patmos 2017, S. 352 f.

Das eigene Tierische, die Angst davor, verstellt die Sicht auf die Tiere.

Harsieber erklärt, man könne unsere Einstellung zu den Tieren nur psychologisch sehen. Wir vermenschlichen das Näheverhältnis zum Haustier (niedlich, lieb), zum Raubtier ist es das Raubtierische, auch sie leben nur das Leben ihrer Art. Wir haben ein Teil unseres Tierischen domestiziert, wir beschwören das in Hunde-und Katzenbildern. Raubkatzen und Schlangen bleiben in der Wildnis unseres inneren unbewussten Urwalds. Im Zoo können wir sie durch Gitter geschützt betrachten. „Die Zoodirektoren schützen uns vor den Raubtieren in uns“.

Weitere Gedankengänge dienen der Einsicht: „Wir haben vergessen, unser Tier zu leben“.

Das lässt sich am Beispiel “Zoo“ erklären.,Tiere leben ihr Ureigenstes. Ihr Verhalten, wie Gebrüll, aufgerissene Mäuler, gefährliche Zähne der Tiger und Löwen „extrahieren“ wir, wollen wir in ihrer ureigenen Tierbedeutung nicht zulassen. Die Gefährlichkeit lassen wir hinter Gittern, sie kann uns nichts mehr anhaben – wir akzeptieren das Unnatürliche im Gegensatz zu Tierfilmen in freier Wildbahn, wo sie uns weitaus natürlicher erscheinen. „Ihre reduzierte Käfig-Gefährlichkeit löst sich in der Jagd nach Beute auf“. Beute wird gerecht aufgeteilt, wenn auch streng hierarchisch. Es wäre nicht tierisch, den Beuteüberfluss für sich zu behalten, und die anderen verhungern zu lassen – dieses Verhalten könnte eher den Menschen zugewiesen werden. Unser zuweilen umgekehrt abartig Menschliches projizieren wir auf die Tiere, unsere Sicht auf das Tierische ist aber verzerrt.

Im Gegensatz zu den Menschen, drehe sich bei den Tieren alles um den Selbsterhaltungstrieb. Uns erscheint deshalb die Sexualität als besonders tierisch. „Auch wenn es andere Bereiche (etwa in der Wirtschaft) gibt, die viel „tierischer sind“.Das Menschliche kämpft in der Liebe immer mit dem Animalischen, zumal sie den ganzen Menschen erfasst. Das Animalische versucht der Mensch zu verdrängen oder zu verstecken; das Tier zu leben, wollen wir uns nicht eingestehen. Dies erklärt Sigmund Freud mit dem „Sublimieren des Triebhaften in der Kultur“. Unter Sublimieren verstand er den Vorgang der Modifikation von Triebenergie in künstlerische, schöpferische, intellektuelle oder allgemein in gesellschaftlich anerkannten Interessen, Tätigkeiten und Produktion.

Robert Harsieber, der Philosoph, Journalist und Autor, spricht in diesem Zusammenhang von der „damaligen Zeit der Verdrängung, die das Obere und Untere verschämt zu trennen versuchte“.

Für C.G. Jung gibt es nur einen Weg nach oben: nämlich den nach unten“.

Was meint eigentlich C.G. Jung mit „oben“ und „unten“? Er hat diese Konzepte metaphorisch verwendet, „um verschiedene psychische Zustände oder Dimensionen des menschlichen Erlebens zu beschreiben, nicht im wörtlichen Sinne von Himmelsrichtungen“. Es war für ihn entscheidend, diese beiden Pole nicht als getrennt oder gar verfeindet zu betrachten, sondern sie zu integrieren. „Der Prozess der Individuation – Jungs zentrales Konzept der persönlichen Entwicklung – beinhaltet die bewusste Auseinandersetzung und Versöhnung von „oben“ und „unten“. „Die Reise nach unten in das Unbewusste war für ihn notwendig, um verborgene Aspekte der Persönlichkeit (wie den Schatten) ans Licht zu bringen, damit sie in das Bewusstsein integriert werden können. Das Ziel ist ein ausgewogenes, ganzheitliches Selbst“.

Wie definiert er diese Pole? „Oben“ bezieht sich auf die bewussten Aspekte der Psyche, das Spirituelle, das Rationale und das Ideale. Gemeint ist: Das Bewusstsein (Ego), also den Teil der Psyche, der uns unserer selbst und der Welt um uns herum bewusst ist. Das Spirituelle und das Transzendente verband Jung oft mit der Suche nach Erleuchtung, Sinnfindung und die Verbindung zu etwas Größerem als dem Selbst. Logik und Ordnung, also die strukturierte, rationale Welt des Verstandes.

Als „unten“ bezeichnet Jung das Unbewusste, Instinktive, Materielle; damit sind die tiefen, oft verborgenen Schichten der Psyche gemeint. Das Unbewusste (persönlich und kollektiv) wird von verdrängten Erinnerungen, Emotionen, Schattenseiten und die mächtigen Archetypen geprägt. Instinkt und Triebe, also die biologischen und primitiven Antriebe, beeinflussen unser Verhalten, wie Sexualität und Aggression. Das Materielle und Irdische, im Gegensatz zur himmlischen Sphäre. Damit meint er die Verbindung zum Körper, zur Natur und zur realen greifbaren Welt.

Harsieber interpretiert, nach Jung könne in diesem Sinne nur der aufstehen, der vorher herabgestiegen ist. Das nichtgelebte Tierische mache uns Angst, wirbetrachteten es mit Schaudern. Wieder gibt er uns ein Beispiel aus dem tierischen Bereich.Der Löwe kann seine ganze Aggression im Zoo nicht ausleben. Seinen ganzen Schmerz darüber schleudert er den Besuchern „mit aufgerissenem Maul und schaurigem Gebrüll“ entgegen. Wir schauen der Gefahr ins Auge, die das nicht gelebte Tierische in uns anrichten kann, sollten die schützenden Gitterstäbe einmal auseinanderbrechen. C.G. Jung formuliere es so: „Wer sein Tier nicht lebt, muss seinen Bruder wie ein Tier behandeln.“

So müsse die innere Käfighaltung des Tierischen dazu führen, das Ungeliebte nach außen projizieren zu müssen. Es wird ausgeklammert.

Jung vergleiche dies auch mit der animalisch gelebten Sexualität. Sie hat für ihn immer noch einen sündhaften Beigeschmack, statt dass sie das pralle Leben in der Vereinigung der Gegensätze als Basis für die Einheit aller menschlichen Dimensionen, nämlich der Liebe, abbildet. Sexualität ist weit mehr als nur Trieb oder Fortpflanzung, sie ist der Schlüssel zur Seele, zum Unbewussten-und zur Wahrheit über uns selbst.

Wir leben in einer Zeit, in der Sexualität einerseits überall sichtbar ist – und doch auf einer tieferen Ebene kaum verstanden wird. Liebe ist nicht unheilig. „Sie klammert nichts aus, sondern nimmt alles hinein in ihre läuternde Glut“. Augustinus, so Harsieber sage dazu: „Dilige et quod vis fac“, „liebe und tu, was du willst“. Dies im Gegensatz zum Moralapostel, der überall das Teuflische und Tierische sieht. Er glaubt sich, darüber erheben zu können, dabei ist er ihr längst verfallen.

Und wieder zitiert Harsieber dazu Jung: „Erniedrige dich und lebe dein Tier, damit du deinem Bruder gerecht sein mögest. Damit erlösest du all deine Toten, die umherschweifen und an Lebendigen sich zu nähern trachten“ (S. 353). Was versteht Jung unter „die zu erlösenden Toten“? Er versteht darunter die verdrängten „inneren Gespenster“, die uns „Lebendige doch nie loslassen“. Wen meint er damit? Für ihn sind die verdrängten inneren Gespenster die Inhalte des persönlichen Unbewussten, also vergessene, abgelehnte oder verdrängte Erfahrungen, Erinnerungen, Gefühle und Gedanken, die unser Verhalten beeinflussen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, und die als Schatten, Komplexe oder Archetypen in Erscheinung treten können. Kurz gesagt: Jungs „innere Gespenster“ sind die unbewussten, verdrängten Teile unserer selbst, die nach Beachtung und Integration streben, um Ganzheit zu erreichen. Zombiefilme, so Harsieber, griffen dieses Thema auf und seien wohl deshalb für viele so faszinierend.

Techniken aktiver Imagination nach C. G. Jung

Und noch ein Wort zu Techniken wie aktiver Imagination, um Heilung und Integration zu ermöglichen. Dazu auch die Erläuterungen der C.G.Jung-Gesellschaft Köln:

Was verstehen wir unter „aktiver Imagination“? Sie ist eine Methode der analytischen Psychologie. C.G. Jung hat sie entwickelt, um unbewusste Inhalte zu erforschen, indem man einen Dialog mit inneren Bildern führt. Sie werden nicht nur passiv wahrgenommen, sondern aktiv weiterentwickelt und erforscht. Der Prozess ermöglicht die Integration persönlicher und kollektiver unbewusster Kräfte, und kann so zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen und dient der Selbsterfahrung. Leben und individuelle Entfaltung darf keinem starren Gesetz unterworfen sein; maßvolle Ordnung ja, als äußerste Ordnung kann es jedoch Unterdrückung und Tod bedeuten.

Laut Robert Harsieber sind wir damit an einem heiklen Punkt: „Bei der Definition „animal rationale“ steht das „animal“ für das Lebendige, das „rationale“ (auch) für die Gefahr des Todes. Und hier zitiert er Hegel. Nach Hegel trägt das Leben diese beiden Gegensätze in sich und müssen ausgehalten werden. „Das Tierische ist die Basis, die der mensch durch seine Geistigkeit transformiert und so zu dem wird, was er seinem Wesen nach sein soll: Ein sich selbst bestimmendes, freies Subjekt innerhalb der Totalität des Geistes“.

Folgerung

Die „ratio“ ist zwiespältig. Mit ihr war nicht nur die rationale Logik gemeint, sondern die Vernunft. Vernunft kommt aber nicht wie die Logik vom Konstruieren, sondern vom „Vernehmen“. Das Wort „Vernunft“ leitet sich vom Verb „vernehmen“ ab, was „etwas erfassen, begreifen oder wahrnehmen“ bedeutet. Die ursprüngliche Bedeutung beschreibt also ein tiefes Verstehen und Aufnehmen von Zusammenhängen, also nicht nur den reinen Verstand, die „ratio“. Ratio ist also einerseits ein Sich-Öffnen für das Ganze oder Unendliche oder ein Sich-Begrenzen durch die Logik, der Lehre vom korrekten Denken und Schlussfolgern, im Unterschied zum Tier. Logik und Vernunft, wir brauchen beides für ein volles Leben!

Danke an Heiner Schwens und die Imaginationen im Bild von L_Moonii auf Pixabay, Bild von Carla Manneh – Rombout auf Pixabay, Bild von Pexels auf Pixabay