Es ging turbulent zu, als Kommissar Ritter und der Opernkenner I. Burn sich im Operncafé in Frankfurt trafen und sich den Geschmack von „Toast Hawaii und gefüllten Erdbeeren“ in Erinnerung an Clems Wilenrod gedanklich auf der Zunge zergehen ließen. Während I. Burn sich von seinen Erinnerungen überwältigen ließ, Vergangenheit und Gegenwart buchstäblich Wahn und Wirklichkeit ineinander zerflossen, blieb einem Gast namens Krüger der Toast buchstäblich im Halse stecken.
Eingefügte Szene K. B.: Zu schön um wahr zu sein – „Das Bildnis des Dorian Gray“ am Schauspiel Frankfurt
Burn fühlt sich gerade wie eine große Puppe, – äußerlich perfekt, unbeweglich und stets gleichbleibend – innerlich aber spiegeln sich persönliche Erinnerungen, Sehnsüchte und Ängste wider. Er fragt sich, ob dieser Mord an Krüger nicht ein Trauma aus seiner Vergangenheit ist, welches beim Genuss von Toast Hawaii wieder hochgekommen ist.
Spontan denkt er an den, von ihm hoch verehrten Oscar Wild und dessen Protagonisten Dorian Gray. Erst vor einigen Tagen hat er „Das Bildnis des Dorian Gray“ im Schauspiel Frankfurt miterlebt und dies auf seine eigene momentane Lebenssituation übertragen. Er fühlt sich wie dieser Dorian Gray, der das menschliche Gegenstück zu der Puppe „Olympia“ zu sein scheint. Grays jugendliches Antlitz scheint puppenhaft nach außen unverändert, genau wie Burns eigenes, zudem er viele Komplimente erfährt. Aber er fragt sich. geht es ihm nicht ähnlich wie Dorian, dem Romanhelden, der nicht alt werden kann?
Gibt es da nicht eine riesige Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdbild, weil die anderen anscheinend sein „Kern-Selbst“ weder sehen wollen, noch können? Genau wie Dorian Grey zunehmend hässlich, böse und verkommend werdend, ein Abbild der kriminellen Energien, die in Frankfurt zunehmend Oberhand gewinnen?
Hat er sich nicht gerade zum Thema Selbstbild/Doppelgänger Gedanken bei „Der Sandmann“ von E. T. A. Hoffmann gemacht? Die Dopplung Nathanaels im „Sandmann“ mit seinen vermeintlichen Riesenfiguren (Spukfiguren, Augen) entspricht dem Jung’schen Doppelgänger- bzw. Animus/Anima-Motiv, wobei der Protagonist sich in Spiegeln, Automaten oder anderen Personen wiedererkennt, aber die eigene Identität verliert.
Ist er zu kritisch mit sich selbst oder hat er im Operncafé einen Schock erlitten, weil er sich gefühlt hatte, als sei er einen Moment lang ein ganz anderer? Haben die vielen Verbrechen und Frankfurter Opern-Morde in ihm etwas ausgelöst, das seinen tatsächlichen Charakter nun ans Licht bringt?
Um die Übersicht nicht zu verlieren, dienen da die Abstracts der Schreibwerkstatt „Tatort Frankfurt. Welche Rolle spielt die Magie der Musik?“
Und weiter grübelt er. Es war im Dezember, als er „Das Bildnis des Dorian Gray“ am Schauspiel Frankfurt in einer neuen Bühnenfassung des israelischen Regisseurs Ran Chai Bar-ziv sah und des Dramaturgen Lukas Schmelmer in der Premiere den Dorian Gray sah. Er war eingeladen worden, denn man schätzte ihn nicht nur für seine Opernkenntnisse.
In der Menge fiel ihm in der Pause ein Mann auf, der ihn sofort an den Möchtegern Regisseur und Operndarsteller Strahlemann erinnerte. „Was machte der hier, sich Inspirationen für sein nächstes fürchterliches Auftreten in der Opernwelt holen?“ …
„Meine Güte“, murmelt Burn vor sich hin, „was für ein Debakel im Holzhausenschlösschen, als er einen Futon arrangierte, auf dem er die junge Undercover Polizistin Sophie als „Madame Butterfly“ platzierte. Kann es denn sein, dass dieser unsägliche Strahlemann eine pervertierte Obsession auslebt? Geht es ihm vielleicht um eine frühkindliche Opern- oder Schauspielerfahrung mit seiner verstorbenen Mutter? War es vielleicht eine Melodie, die ihn immer wieder dazu ‚triggerte‘ eine gehasste, auf der Bühne lebendig gewordene Theaterfigur, für alle Zeit ‚mundtot‘ zu machen?“
Laut sagt Burn: „Strahlemann, treibst Du ein perfides Katz-und-Maus-Spiel mit Ritter und mir?“ (diese Gedanken kamen Kommissar Ritter und Burn schon in der Schreibwerkstatt Teil VII)
Burn weiß, dass man von ihm erwartete, den heutigen Abend öffentlich zu kommentieren. Stichwortartig notiert er: „Das Werk Picture of Dorian Gray wurde 1890 erstmals veröffentlicht. Der Roman von Oscar Wilde wird bei Erscheinen auf Novellenlänge gekürzt, in Lippincott’s Monthly Magazine, einer US‑amerikanischen Literaturzeitschrift mit Sitz in Philadelphia. Die Handlung über das Leben eines privilegierten jungen Mannes aus der Londoner Oberschicht, der über Leichen geht, um sein Geheimnis seiner unveränderlichen Schönheit vor der Welt verborgen zu halten, behandelt das Thema ewige Jugend und Schönheit und ist gleichzeitig ein Schauermärchen. Das Altern wird heute, würde man sagen, outgesourced: Nicht er selbst altert, sondern sein Porträt. Er hält es versteckt vor den Augen der Welt in seinem ehemaligen Kinderzimmer.“
„Jetzt muss ich das auch noch kommentieren, obwohl mir ganz anderes durch den Kopf geht“, denkt Burn genervt und schreibt in sein Notizbuch:
„Der britische Dandy Oscar Wilde zeigt in seinem Roman ein Bild einer Gesellschaftsschicht, die von Eitelkeit bestimmt wird. Dieser Gesellschaftsschicht fehlt jegliche Scham und hat keine Schuldgefühle aufgrund ihres dekadenten Lebensstils. Die Figuren in The Picture of Dorian Gray interessieren sich weder für das Elend der Unterschicht noch dafür, woher ihr Reichtum stammt. Diese aufgezeigte Londoner Oberschicht interessiert sich einzig für Tratsch, geistvolle Lästereien und die Wahrung eines äußeren Scheins. Dabei geht es um die glatte Oberfläche. Das unbescholtene Äußere ist längst an die Stelle der moralischen Aufrichtigkeit im Charakter getreten …“ Burn hält inne, „Donnerwetter, wie sich die Zeiten von damals mit den heutigen gleichen …“ und philosophiert weiter:
„Die viktorianische Gesellschaft nimmt das Buch von Oscar Wilde in dieser Beschreibung der oberen Gesellschaftsschicht hin. Aufgeregt wird sich stattdessen über die vielen im Text enthaltenen homoerotischen Anspielungen, aber nicht an der zynisch anmutenden Gesellschaftskritik. Die erste Übersetzung ins Deutsche macht aus dem Picture das Bildnis und so heißt das Buch bis heute in Deutsch Das Bildnis des Dorian Gray. Der Nachname Gray wird zwar nicht übersetzt, könnte aber eine Anspielung auf den Farbton sein – eine Mischung aus Schwarz und Weiß, das ergibt Grau. Dorian Gray hätte also theoretisch auch Dorian Grau heißen können. Doch ist Grau überhaupt eine Farbe? Ist es nicht vielmehr eine Nicht‑Farbe? Picture würde man heute mit dem Wort Foto übersetzen und nicht mit Bildnis oder Gemälde.“
„Ein wirklich herrlicher Gesellschaftsskandal, das zieht immer, denkt Burn weiter und schreibt: „Oscar Wild landete für seine öffentlich bekanntgewordene homosexuelle Beziehung zu Lord Alfred Douglas 1895 für zwei Jahre im Zuchthaus und er wurde zu schwerer Zwangsarbeit verurteilt. Noch schlimmer für Oscar Wild war sein Ausschluss aus der oberen englischen Gesellschaftsschicht. Durch sein Image als Dandy verdiente Oscar Wild Geld mit Vorträgen und Magazinbeiträgen. Durch den Skandal um seine sexuelle Ausrichtung wird ihm die Lebensgrundlage entzogen. Er stirbt verarmt in Paris. Seine Figur Dorian Gray verbirgt seine Neigungen und überträgt seine Ausschweifungen auf das Bildnis.“
Und für sich selbst grübelt er weiter: „Die Faszination, die Schönheit ausübt, ist kein bloßes ästhetisches Vergnügen. Sie wirkt als sozialer Magnet, weil ein schönes Antlitz Gesundheit, genetische Fitness und soziale Kompetenz signalisiert. Ich denke, man könnte psychologisch vom Halo‑Effekt sprechen, den ich ja an mir selbst auch immer wieder beobachten kann. Menschen neigen einfach dazu, schöne Menschen automatisch als vertrauenswürdig, kompetent und sympathisch zu bewerten. Klar, das Phänomen erklärt, Dorian Gray nicht nur das Publikum sofort in seinen Bann zieht.“
„Klar muss mir sein, dass Schönheit unter Umständen nur eine trügerische Fassade ist“, grübelt Burn weiter. „Das Gemälde, das Dorian sein unverändertes Äußeres bewahrt, ist kein bloßes Bild, sondern ein magischer Spiegel seiner inneren Verfassung. Während Dorian äußerlich unverändert bleibt, zeigen sich im Bildnis die Spuren seiner Sünden – Falten, Narben und Verfall. Das Bildnis verdeutlicht, dass wahre Schönheit nicht allein im äußeren Erscheinungsbild liegt, sondern im moralischen Zustand des Menschen.“
„Ich muss einfach aufpassen, dass es mir nicht wie Dorian geht … mein ausschweifender Lebensstil gleicht zuweilen Dorians – was ist nur heute mit mir los“, seufzt er in seiner melancholischen Stimmung versinkend, „dabei ist es das eigentliche „Altern“, das im Bildnis sichtbar wird. Jede Lüge, jeder Verrat und jeder Mord hinterlässt eine unsichtbare Färbung, nicht nur im Porträt; das zunehmende Grau verdunkelt manchmal mein inneres Empfinden, auch dann, wenn ich wie Dorian selbst jugendlich nach außen hin wirke. Mir geht es wie ihm, das unablässige Streben nach sinnlichen Reizen erzeugt eine innere Leere. Ich spüre das immer mehr, genau wie Dorian altere ich zunehmend innerlich, obwohl das Gesicht unverändert bleibt. Hängt das mit der Unfähigkeit zusammen tiefe, stabile Beziehungen zu pflegen? Vor mir kann ich es zugeben, es ist die Angst, jemand würde das Bildnis enthüllen, Beispiel Dorian und analog meine wahre Natur erkennen. Grays und mein Leben sind geprägt von Geheimnistuerei, und diese soziale Isolation wirkt wie ein unsichtbarer Grauton, der das leuchtende Farbenspektrum ewiger Jugend verdunkelt.“
Burn gesteht sich in diesem Moment seine Angst vorm Älterwerden. Auch wenn sein äußeres Bild statisch bliebe, gleicht sein Leben dem von Dorian, immer mehr erlebt er einen dynamischen Strom aus Vergnügungen, Bösartigkeit und zunehmender Hässlichkeit rund um sich herum. „Nur ein Symbol für die viktorianische Obsession mit äußerlicher Moral und Scheinheiligkeit“, denkt er und grinst böse. Und sein geduldiges Notizbuch erfährt die Zeilen, die veröffentlicht werden sollen:
„In der von Ran Cai‑Bar‑iv inszenierten Fassung konzentriert sich das Stück auf drei Personen: Dorian, gespielt von Mitja Over, den Maler Basil, verkörpert von Miguel Klein Medina, und den älteren Freund Harry, dargestellt von Stefan Graf. Die vom Regisseur selbst gestaltete Bühne ist nüchtern und lässt den Zuschauer in einer angedeuteten Kunstgalerie verweilen. Zwischen Basil und Dorian bahnt sich eine Beziehung an, die von Harry eifersüchtig beobachtet wird. Während Harry im Roman lediglich eine Nebenfigur ist, wird er hier zu einem fiesen, selbstbewussten Typ, der mit spitzen Bemerkungen Dorian und Basil abwertet.
Harry ist großspurig, unsympathisch, aber zugleich reizvoll und löst in Dorian den Wunsch aus, böse zu sein – fast wie eine der Hyänen aus Der König der Löwen, die Unruhe stiften. Zwischen Basil und Dorian entsteht eine intensive, fast romantisch anmutende Beziehung. Seine großspurige, unsympathische Art wirkt gleichzeitig reizvoll und provoziert Dorian, seine verborgenen, dunklen Wünsche zu erkunden. Die Dreiecksbeziehung führt zu Rauschzuständen, in denen Alkohol und laute Musik die Hemmungen der Protagonisten weiter schwächen. In diesen Momenten verliert Dorian fast vollständig seine moralischen Schranken, während Basil zunehmend zum willfährigen Werkzeug der beiden wird.
Durch Harrys Einfluss wird Dorian zunächst unschuldig und wird dann in die Welt des Bösen hineingezogen. In dieser aufgeladenen Stimmung zwischen den drei Figuren wird der arme Basil zum Laufburschen der beiden anderen gemacht. Ein auffälliges strukturelles Merkmal der Inszenierung ist die völlige Abwesenheit weiblicher Figuren. Ohne Frauen, die als Gegenpol zu den männlichen Leidenschaften dienen könnten, verdichtet sich die Spannung ausschließlich auf die drei Männer. Diese Leere verstärkt das Gefühl von Isolation und lässt die Zuschauer die toxische Dynamik zwischen Dominanz, Eifersucht und Verführung noch intensiver wahrnehmen.“
„Ist das jetzt in meinem Kopf, oder höre ich passend zur Nacht den Song „Sweet Dreams are made of this“, Burn zweifelt wiederum an sich selbst, fühlt wie der Song die düstere Atmosphäre unterstreicht. Sieht wie nach etwa 75 Minuten Basil ermordet wird, erlebt wiederum einen Schock, fühlt nach, wie die Spirale von Hässlichkeit und Bösartigkeit, die nicht nur Dorian im Laufe seines Lebens angesammelt hat, sich vollends manifestiert.
Er schreibt in sein kluges Buch: „Der anschließende Epilog, geschrieben von Marcus Peter Tesch, thematisiert das Feiern der Sexualität und bildet den Abschluss des Theaterabends. Der Text von Tesch entfaltet erst im Nachgang seine volle Wirkung.“
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