Aribert Reimann „L’Invisible“ an der Oper Frankfurt bedient sich bei Maurice Maeterlinck
Bei Pelléas und Mélisande, Maurice Maeterlincks symbolistischem Drama, ging es um die großen Themen der Sehnsucht und Schuld. Je mehr man sich mit Maurice Maeterlinck auseinandersetzt, desto mehr versteht man, wie sehr seine Lyrik, Prosa und Dramatik sich mit dem Themenbereich des Todes auseinandersetzt. Aribert Reimann bedient sich bei seiner letzten Oper bei Maeterlinck. Schon dies alleine lässt ahnen, Sehnsucht, Schuld und Tod werden wieder eine große Rolle spielen. Der Opernkenner I. Burn aus dem Team UniWehrsEL hat für uns „L’Invisible“ an der Oper Frankfurt angesehen. Herzlichen Dank für seine Kritik dazu.
Liebe UniWehrsEL-Leser,
Wie geht die Gesellschaft mit der Sehnsucht nach Trost und Sinn um, wenn Verlust und Schicksal unausweichlich erscheinen? Diese Frage durchzieht die Oper L´Invisible von Aribert Reimann, einem Werk von tiefer emotionaler und symbolischer Kraft, dass ich am 30.03.25 an der Oper Frankfurt besucht habe. Der Komponist widmete die Oper seinem älteren Bruder Dietrich, der 1944 im Alter von 12 Jahren bei einem Bombenangriff ums Leben kam. Diese persönliche Tragödie prägt die Intensität des Werks und verleiht den drei Akten – Der Eindringling, Das Innere und Der Tod des Tintagiles – eine universelle Dimension, die über die Bühne hinausgeht.
Der erste Akt: Der Eindringling
In Der Eindringling entfaltet sich ein spannungsgeladenes Drama: Eine Mutter ringt bei der Geburt ihres Kindes mit dem Tod, während sich die Familie zu einem Abendessen am langen Esstisch versammelt. Die Schreie aus dem Nebenzimmer und die düstere Atmosphäre werden von der Familie verdrängt, die sich auf Beschwörungsformeln und die beruhigenden Worte des Arztes stützt. Doch das Vorahnen eines unsichtbaren Eindringlings, den der blinde Großvater wahrnimmt, sowie beunruhigende Omen – das Verstummen der Tiere und unerklärliche Schritte – führen unweigerlich zur tragischen Erkenntnis: Die Mutter stirbt, das Kind wird geboren.
Die Geschichte entfaltet sich wie ein komplexes psychologisches Drama, in dem sich Archetypen und Symbole zu einer tiefgehenden Erzählung verweben. Die Geburt und der gleichzeitige Tod repräsentieren die untrennbare Verbindung von Leben und Sterben. Das Abendessen als Sinnbild gesellschaftlicher Normalität wird durch die Schreie der Mutter und die bedrohliche Präsenz des Unsichtbaren gestört, was für die Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz steht.
Der blinde Großvater könnte als Symbol für intuitives Wissen oder das Unbewusste gesehen werden. Während die Familie den Eindringling leugnet, erinnert seine Vision an verdrängte Ängste und Wahrheiten, die unausweichlich ans Licht kommen. Das plötzliche Verstummen der Tiere mag ein Hinweis auf das Herannahen von Tod und Veränderung sein – ein böses Omen, das die Balance in dieser Welt aus den Fugen geraten lässt.
Das Setting des langen Esstisches ist ebenfalls hochgradig symbolisch. Es deutet auf Zusammenhalt, aber auch auf Ignoranz hin – die Familie sitzt buchstäblich zusammen, doch emotional und geistig ist sie weit entfernt von der Realität und den dunklen Kräften, die sie umgeben.
Der zweite Akt: Das Innere
Das Innere spielt in einer idyllischen Dorfgemeinschaft, die durch die Nachricht vom Tod eines jungen Mädchens gestört wird. Der Fremde und ein älterer Mann zögern, die Familie des Mädchens zu informieren, da sie das paradiesische Familienidyll nicht zerstören wollen.
Daniela Löfflers Inszenierung hebt diese Spannung durch die Darstellung eines prachtvollen „Garten Edens“ hervor. Doch die Ankunft der Enkelinnen, die mitteilen, dass die Dorfbewohner bereits mit der Leiche des Mädchens auf dem Weg zur Familie sind, zwingt die Männer zum Handeln.
Das Innere ist eine tief symbolische Erzählung, die das Spannungsfeld zwischen äußerer Harmonie und innerem Schmerz beleuchtet. Die grüne, prachtvolle Natur steht im scharfen Gegensatz zur Tragödie des Mädchens – ein Paradoxon, das die Zuschauer auf emotionaler Ebene erfasst. Dieses Bild des Garten Eden könnte als Ausdruck des menschlichen Verlangens nach Frieden und Unschuld interpretiert werden, das jedoch durch die Realität der Vergänglichkeit immer wieder zerstört wird.
Der Fremde und der Alte repräsentieren zwei Seiten der menschlichen Psyche: Das Zögern, unangenehme Wahrheiten anzusprechen, könnte auf die Neigung hinweisen, Konflikte und Schmerzen zu vermeiden. Gleichzeitig steht ihr letztendliches Handeln für die Unausweichlichkeit, sich der Realität zu stellen. Die Enkelinnen fungieren als Katalysator, der die Illusion von Kontrolle zerstört und die Handlung in Gang setzt.
Das Beobachten des Alten durch den Fremden und die Enkelinnen gibt Raum für Reflexion. Die Szene könnte den inneren Prozess darstellen, mit Verlust umzugehen – ein stilles Zeugnis für den Versuch, das Unbegreifliche zu verstehen. Es zeigt, wie das Überbringen tragischer Nachrichten nicht nur den Empfänger, sondern auch den Überbringer und die Beobachter tief verändert.
Der dritte Akt: Der Tod des Tintagiles
Im abschließenden Akt wird der junge Tintagiles ins Schloss seiner Großmutter gerufen, die ihn als Thronfolger als Bedrohung sieht. Seine Schwester Ygraine versucht zusammen mit Bellangère und einem Diener, ihn zu schützen. Doch Tintagiles wird entführt, und Ygraine muss den unausweichlichen Tod ihres Bruders miterleben. Die Großmutter steht sinnbildlich für eine zerstörerische Macht, die Hoffnung und Erneuerung unterdrückt.
Der Tod des Tintagiles ist ein eindringliches Symbol für die Unausweichlichkeit von Machtstrukturen, Verlust und menschlicher Hilflosigkeit gegenüber den Kräften des Schicksals. Die Großmutter, die im Schloss herrscht, repräsentiert eine allmächtige und bedrohliche Figur – sie könnte als Metapher für destruktive Systeme oder autoritäre Macht gesehen werden, die keinen Raum für Freiheit oder Liebe lassen. Tintagiles, als Thronfolger, verkörpert Hoffnung und Erneuerung, doch diese Qualitäten werden durch die Großmutter systematisch ausgelöscht.
Ygraines verzweifelter Versuch, Tintagiles zu retten, spiegelt die menschliche Sehnsucht nach Schutz und Überwindung von Gefahr wider. Ihr Scheitern steht für die Erkenntnis, dass manche Kräfte jenseits der menschlichen Kontrolle liegen. Die Geschichte hat eine archetypische Dimension: Sie zeigt das ewige Ringen zwischen Liebe und Tod, zwischen Hoffnung und Destruktion.
Die Figuren Bellangère und der Diener repräsentieren die Gemeinschaft, die versucht, das Unvermeidbare zu verhindern. Doch ihre Bemühungen sind ebenso vergeblich, was auf die Begrenztheit menschlicher Intervention hinweist. Der Moment der Entführung und die Hilflosigkeit von Ygraine gegenüber dem Tod ihres Bruders verdeutlichen die Brutalität der Realität – und die Tatsache, dass das Leben oft von unüberwindbaren Verlusten geprägt ist.
Der Tod des Tintagiles knüpft nahtlos an die Themen der vorangegangenen Akte an. Der erste Akt, Der Eindringling, thematisiert die unheimliche Präsenz von Tod und Gefahr in einer scheinbar heilen Welt. Der zweite Akt, Das Innere, zeigt die Zerbrechlichkeit von Idyllen angesichts der Realität des Verlusts. Im dritten Akt erreicht diese Symbolik ihren Höhepunkt, indem er die Machtlosigkeit gegenüber einer übergeordneten und unbarmherzigen Autorität der Großmutter betont. Gemeinsam schaffen die Akte ein zusammenhängendes und tiefgründiges Werk, das die Zuschauer dazu bringt, über die grundlegenden Aspekte des menschlichen Daseins nachzudenken.
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