Valerie Dracks definiert die Grenze zwischen Kunstkörpern und Mode sei eine Fließende. Wie Yves Kleins Anthropometrien Abdrücke von Menschen seien, so wären auch Puppen Abbilder von Menschen, „die die Fixierung des Moments in eine vermeintlich erlebbare Realität in einer zukünftigen Gegenwart symbolisieren“. Interessant findet sie in diesem Kontext auch die Kreationen von Victor und Rolf, dem holländischen Designerduo, das mit Bild-Abbild spiele. Im Rückgriff auf Puppenmodelle, neben lebendigen Mannequins, zeigten die Künstler, wie sich das Stereotype Puppenbild in Form des dichotomen Frauenbildes Heilige-Hure immer wieder reproduzieren lasse. Eine Leserin des UniWehrsEL stellte eine Verbindung zu heutiger Mode-Performance, digitalen Körpern (Avatare) und zu Künstlerinnen wie Rebecca Horn oder Orlan her.
Liebes UniWehrsEL,
Nachdem ich Ihnen in meinem Brief Yves Klein näher gebracht habe, möchte ich hier in der Fortsetzung Valerie Dracks Ausführungen ergänzen. Es geht mir um: „Die Fixierung des Moments in eine vermeintlich erlebbare Realität in einer zukünftigen Gegenwart (zu) symbolisieren“ an Beispielen der Kreationen von Victor und Rolf Rebecca Horn und Orlan

Hier geht es um ein komplexes ästhetisches Prinzip:
Ein vergänglicher, performativer Moment wird in ein Objekt, Bild oder Artefakt überführt – und dadurch in einer zukünftige Gegenwart „erlebbar“ gemacht.
Diese Fixierung des Moments ist eine gemeinsame Linie in den Arbeiten von Viktor & Rolf, Rebecca Horn und Orlan. Jeder von ihnen nutzt den Körper, das Kostüm oder die Erweiterung des Körpers, um Zeit, Identität und Realität neu zu verhandeln.
1. Viktor & Rolf – Mode als eingefrorene Performance
Moment → Objekt → zukünftige Erfahrung
Viktor & Rolf schaffen Modeobjekte, die aussehen, als wären sie aus einer Performance heraus eingefroren. Sie arbeiten mit dem paradoxen Moment der Zeitstilllegung.
Beispiele
- Gemälde, Rahmen und ganze Wandinstallationen werden zu Kleidern.
- Die Modelle wirken wie bewegte Museumsobjekte.
- Der Moment der Ausstellung (ein Bild an der Wand) wird in die Zukunft getragen, wenn das Bild als Kleid „performt“ wird.
Fixierter Moment:
Der statische Moment der Kunstpräsentation.
Zukunft:
Das Bild wird mobil, lebbar, tragbar – eine „erlebbare Realität“ im Laufstegraum.
- Ein Model (Maggie Rizer) wird Schicht für Schicht in Kleidern überkleidet.
- Der Laufsteg wird zur live skulpturalen Entstehung.
Fixierter Moment:
Das schrittweise Entstehen einer Figur.
Zukunft:
Die letzte, finale Gestalt ist ein kondensierter Endzustand, der die Performance konserviert.
- Mode imitiert ein eingefrorenes Puppenmodell und überträgt es in die reale Bewegung.
- Modelle tragen Kleider wie starre Puppen-Outfits
Fixierter Moment:
Die Starre, unbewegte Pose eines Mannequins.
Zukunft:
Das unbewegliche Bild wird belebt – wie ein eingefrorener Moment, der zu laufen beginnt.
2. Rebecca Horn – Körpererweiterungen als gespeicherte Bewegung
Bei Rebecca Horn bleibt der Körper Quelle, das Kunstobjekt aber speichert die Aktion.
Beispiele
- Eine Performerin trägt ein Gestell mit einer langen Hornstange.
- Die Skulptur zwingt den Körper in extrem langsame, ritualisierte Bewegungen.
Fixierter Moment:
Die lineare Verlängerung des Körpers – eine „gebundene“ Geste.
Zukunft:
Das Objekt bleibt als Erinnerungsträger der Bewegung erhalten; die Prothesen-Skulpturen konservieren den performativen Zustand.
- Fingerverlängerungen schaffen eine neue körperliche Reichweite.
- Das Objekt zwingt zu neuer Art von Handlung.
Fixierter Moment:
Die Spur der veränderten Wahrnehmung und Reichweite.
Zukunft:
Das Objekt überlebt die Performance und trägt den veränderten Körpermodus in die Zukunft.
c) Mechanische Skulpturen (z. B. „Concert for Anarchy“, 1990)
- Dinge bewegen sich „wie einst“ der Körper.
- Der Moment wirkt wie eine konservierte Handlung, die sich immer wieder abspielt.
3. Orlan – Der Körper selbst wird zur fixierbaren Zukunft
Orlan fixiert nicht Bewegungen, sondern Identität – im und durch den eigenen Körper, der zu einem permanent erneuerbaren Kunstwerk wird.
Beispiele
a) „Carnal Art“ – chirurgische Performances (1990er)
- Orlan lässt ihren Körper operieren und nutzt die Eingriffe als künstlerische Geste.
- Jede physische Veränderung ist ein dauerhaft „eingefrorener“ Moment der Performance.
Fixierter Moment:
Die live erlebte Operation, der Eingriff in die Körperform.
Zukunft:
Der korrigierte/transformierte Körper trägt den Moment für immer in sich.
b) „Refiguration Self-Hybridation“
- Digitale Selbstporträts mit Gesichtselementen verschiedener Kulturen.
- Identität wird als transformierbarer, wiederholbarer Zustand verstanden.
Fixierter Moment:
Kulturelle oder historische Gesichter werden zu Momenten ihrer eigenen Identität.
Zukunft:
Diese Hybridbilder konservieren eine „zukünftige“ Identität, die im realen Körper nicht existiert.
c) Orlans „Selbst als Puppe“
- Sie inszeniert sich bewusst als künstliches, manipulierbares Produkt.
- Die Puppe ist Symbol eines haltbar gemachten Augenblicks von Identität.
4. Gemeinsame Linie: Fixierung des Ephemeren
Alle drei Positionen teilen ein zentrales Prinzip:
1. Performance wird Objekt
- Viktor & Rolf: Mode wird ein Stillstand im Raum.
- Horn: Prothesen speichern bewegte Geste.
- Orlan: Körper wird permanente Skulptur.
2. Der eingefrorene Moment erzeugt eine „zukünftige Gegenwart“
Der Betrachter erlebt später, was ursprünglich live oder flüchtig war.
3. Der Körper ist immer Medium und Spur zugleich
- Als Abbild (V&R)
- Als Verlängerung (Horn)
- Als direktes Material (Orlan)
4. Der Mensch wird zum Träger eines Zeitkonflikts
Zwischen:
- dem Vergänglichen (Aktion, Bewegung, Identität)
- und dem Dauerhaften (Objekt, Prothese, Transformation)

Kurzfazit: Die „Fixierung des Moments“ funktioniert bei allen drei Beispielen als eine Art Zeitkapsel des Körpers:
- Viktor & Rolf: Der Moment der Mode-Performance ist in das Kleid eingeschrieben.
- Rebecca Horn: Die Prothese speichert die Bewegung, die sie erzwang.
- Orlan: Der eigene veränderte Körper trägt den Moment der Transformation in die Zukunft.
Quellen:
Viktor & Rolf. Fashion Artists 25 Years.
NGV Publication, 2016.
(Umfassender Überblick über ihre Performativität, die „Wearable Art“-Kollektion, „Russian Doll“ und konzeptuelle Runways.)
Rebecca Horn. Bodylandscapes.
Hirmer Verlag, 2021.
(Aktuelle Gesamtdarstellung ihrer Körpererweiterungen und Performance-Objekte.)
Theoretische Hintergrundliteratur (für deine Deutung der Zeitfixierung)
- Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.
(Zur Frage der Repräsentation, Einfrieren von Aura und Moment.) - Roland Barthes: Die helle Kammer.
(Zum „eingefrorenen Moment“ und dem Paradox des Festhaltens von Zeit.)
