Leserbrief zu „Cenerentola“ (Achim Freyer) und „Der Dattrich“ – was ist eigentlich Kult?
Mit dem wunderbaren Beitrag von I. Burn zur Darmstädter Cenerentola ist es ihm ganz offensichtlich gelungen, Sehnsucht nach einem Opernbesuch mit Humor anzuregen. Der geschilderte knallbunte Kosmos des legendären Regisseurs Achim Freyer hat es den UniWehrsEL-Lesern nicht nur angetan, sondern auch nach einem Opernbesuch der Cenerentola zu einer kurzen Charakterstudie der Hauptfiguren angeregt. Und darüber hinaus die Gelegenheit zu einem Vergleich mit einer kultigen Darmstädter Symbolfigur ergriffen: dem Datterich. Herzlichen Dank für diesen Leserbrief.
Lieber I. Burn im Team UniWehrsEL,
danke für Ihre tollen Beiträge, sowohl im Blog, als auch im Seminar-Talk. Es ist fast unglaublich, wieviel Sie in Sachen Kultur unterwegs sind. Sehr hoffe ich auf einen Beitrag, der sich auch einmal wieder intensiv mit der psychologischen Seite von Menschen und Ihrer Kultur beschäftigt. Zum Beispiel, liebes Team UniWehrsEL, was treibt Sie eigentlich an, uns täglich übr Ihre Eindrücke bei Film, Musik oder Kunst zu berichten? Ist es Eitelkeit, in die Öffentlichkeit zu treten? Freude am Schreiben? Die Lust an der Team-Arbeit in einem Blog? Oder die Berufung als Journalist:in tätig zu sein?
Mich beschäftigt schon seit Jahren eine bekannte Darmstädter Figur, die ich Ihren Anregungen zum Kommentar-Schreiben folgend, in ihren Charaktereigenschaften mit den von Ihnen in der Cenerentola geschilderten eitlen Don Manfiico vergleichen möchte. Dabei fiel mir eine Gemeinsamkeit auf: das Groteske.
Was ist eigentlich Kult und warum?
Der Datterich ist nicht nur eine humorvolle lokale Symbolfigur, sondern auch ein echtes Herzstück der Darmstädter Identität. Diese literarische Schöpfung des Dramatikers Ernst Elias Niebergall aus dem Jahr 1841 repräsentiert einen verschmitzten, trinkfreudigen und wortgewandten Charakter, der mit seiner geistreichen, oft ironischen Art die Schwächen der Gesellschaft entlarvt. Warum lieben die Darmstädter diese Figur so sehr? Weil der Datterich das ist, was wir im Alltag oft insgeheim bewundern: ein Überlebenskünstler, der seine kleine Welt mit Intelligenz, Charme und einem guten Schluck Wein aufrecht hält. Die Darmstädter sehen in ihrem Datterich mehr als nur eine komische Figur. Er verkörpert eine gewisse Bodenständigkeit, die Lust am Leben und die Fähigkeit, sich nicht allzu ernst zu nehmen. Er ist der augenzwinkernde „Anti-Held“, der mit seinem schelmischen Charme selbst in aussichtslos erscheinenden Situationen einen Ausweg findet.
Der Datterich und Don Magnifico im Vergleich
Verglichen mit Don Magnifico aus Cenerentola zeigt sich, dass beide Charaktere auf unterschiedliche Weise das Groteske im Menschen verkörpern. Während Don Magnifico als stolzer, einfältiger Vater durch seine Prahlerei und sein peinliches Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg Lacher erzeugt, besitzt der Datterich eine deutlich sympathischere Seite. Seine Schwächen wirken charmant und nahbar, weil sie ohne Überheblichkeit daherkommen. Während Don Magnifico als mahnendes Beispiel für überzogenen Stolz dient, bleibt der Datterich der liebenswürdige Gauner, den man trotz seiner Eskapaden ins Herz schließt.
Die Darmstädter lieben den Datterich, weil er Teil ihrer kulturellen DNA ist – eine Figur, die zeigt, dass man mit einem Augenzwinkern und einer Portion Humor selbst die größten gesellschaftlichen Hürden meistern kann. Und so, wie der Datterich ein Symbol für die lebensfrohe Resilienz der Darmstädter ist, zeigt auch Achim Freyers Darstellung des Don Magnifico mit einem ironischen Seitenhieb, wie wenig sich die Menschen über die Jahrhunderte verändert haben. Ein echter Genuss, die Parallelen zwischen diesen Figuren zu entdecken!
Angelika und Achim Freyers Brautkleid-Metapher
Nun noch ein Wort zu der von Ihnen in der Cenerentola beschriebenen Hauptfigur Angelika. Auch hier interessiert mich beonders ihre Charaktereigenschaft und die Darstellung dieser besonderen Person, voller Sanftmut und innerer Stärke. Damit bleibt sie quasi das ‚Herzstück‘ der Oper. Ihre Bescheidenheit und Güte, die sich gegen den vermeindlichen Glanz der eitlen Figuren durchsetzt, werden im zweiten Akt durch ihr Brautkleid meisterhaft inszeniert. Das Kleid, prächtig und anmutig, überstrahlt alle anderen Figuren – nicht nur visuell, sondern auch psychologisch. Es symbolisiert Angelikas innere Transformation: Der Schimmer des Stoffes spiegelt ihre Würde und ihren Triumph wider. Es ist, als würde sie mit diesem Kleid die Beherrschung einer Welt verkünden, die sie einst vernachlässigt hat. In ihrer 7-minütigen Schlussarie wird die innere Verwandlung ziemlich deutlich.
Die Schwestern Clorinda und Tisbe stehen im leuchtenden Kontrast zu Angelika – und zwar nicht im schmeichelhaften Sinne. Während Angelika mit ihrem guten Herzen und ihrer sanften Bescheidenheit eine wahre Märchenprinzessin verkörpert, wirken Clorinda und Tisbe wie zwei entfesselte Prototypen des schlechten Benehmens. Sie stolpern durch die Handlung mit dem Charme von Dampframmen, ihre Manieren sind so ungeschliffen, dass selbst Don Magnifico rot werden müsste (wenn er nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt wäre). Ironisch ist es schon, dass gerade diese beiden sich für die perfekten Bräute des Prinzen halten. Angelika ist alles, was die Schwestern nicht sind: authentisch, großzügig und unfähig, einen Streit aus Eitelkeit anzuzetteln.
Fazit: Nostalgie trifft Märchenwelt im Freyer-Kosmos
Natürlich haben Sie recht, lieber I. Burn. Der wunderbare Achim Freyer liefert mit Rossinis Cenerentolaam Staatstheater Darmstadt eine Inszenierung, die sich anfühlt, als hätte jemand die Zeitmaschine direkt in die märchenhafte Welt eines knallbunten Rokoko-Kosmos geparkt. Nostalgie dringt bis in die Poren des Publikums, das sich begeistert in Freyers verzauberter Welt verliert. Und wenn fast 30 Jahre Inszenierungsgeschichte zeigen, dass selbst Don Magnifico seiner eigenen Großspurigkeit nicht entkommen kann, bleibt nur eines zu sagen: Freyers Märchenwelt trifft auf ein Darmstädter Publikum, das für schrägen Humor und charmante Übertreibungen bestens gewappnet ist.
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