Du betrachtest gerade Rameaus Oper „Castor et Pollux“: Gedanken zu „animal rationale“ und „Anima, Animus“

Im kommenden Wintersemester 2025/26 wird das Thema „Anima(l)“ – „Tiere als Spiegelbilder menschlicher Seelenzustände“ im Fokus stehen. Angeregt durch den Besuch der Vorstellung von „Castor et Pollux“ am 03.07.25 am Theater Meiningen, eröffnet sich ein faszinierendes Feld der Betrachtung, das die Verbindung zwischen tierischen Verhaltensweisen und menschlichen Emotionen beleuchtet. Die Inszenierung, unter der Regie von Adriana Altaras, wird durch das eindrucksvolle Bühnenbild des renommierten Bildhauers Tony Cragg bereichert.

Liebe Leser des Seminar-Talk des UniWehrsEL,

Sir Tony Cragg, bekannt für seinen innovativen Umgang mit unkonventionellen Materialien, verwendet in dieser Aufführung eine beeindruckende Palette, die neben Holz, Stein und Edelstahl auch Kunststoffe wie Glasfaser umfasst.

Seine Arbeiten sind geprägt von einer einzigartigen Ästhetik, die die Grenze zwischen Kunst und Materialität verschwimmen lässt. Die Zusammenarbeit mit Cragg verleiht der Meininger Aufführung nicht nur visuelle Tiefe, sondern schafft auch einen besonderen Reiz, der die Zuschauer in die emotionale Welt der Oper eintauchen lässt und die thematische Verbindung zwischen Mensch und Tier auf eindrucksvolle Weise verstärkt.

Die Oper „Castor und Pollux“ von Jean-Philippe Rameau (Rameau auch in unserem Beitrag zur Oper Platée), die auf dem Libretto von Pierre Joseph Bernhard basiert, entfaltet sich als ein vielschichtiges Drama, das nicht nur die mythologische Bruderliebe thematisiert, sondern auch die komplexen emotionalen Zustände der Charaktere beleuchtet. Während Tiere in der Handlung nicht direkt vorkommen, lässt sich eine interessante Parallele zwischen den Brüdern und tierischen Verhaltensweisen ziehen, die durch die Konzepte von „Anima, Animus“ und Seelenzuständen ergänzt werden.

Die tierische Metapher der Brüder

Ich möchte an dieser Stelle einen Vergleich zwischen Mensch und Tier wagen. Meinen Überlegungen lege ich einen Beitrag aus der taz zugrunde. Unter dem Titel „Bitte vermenschlicht die Tiere!“ plädiert der Verhaltensbiologe Karsten Brensing dafür, tierischen Lebewesen das gleiche Denken wie uns Menschen zuzugestehen. Dies gilt wohl auch im umgekehrten Fall.

Und auch meine weiteren Überlegungen, entstanden anknüpfend an einen Beitrag im Deutschlandfunk unter dem Titel „Das geistige Leben der Tiere„: Wenn es seit der Antike, die Beschreibung des Menschen „animal rationale“, als vernünftiges Tier gibt, wie genau sind die animalischen und die vernünftigen Anteile im Menschen miteinander verknüpft? Wo hört das Tier auf, wo beginnt das Menschliche? Erforscht hat dies der amerikanische Philosoph Thomas Nagel 1974 in einem Aufsatz mit dem Titel: „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ Und begründete damit eine gesamte neue Forschungsrichtung.

Nagel beschreibt letztlich, dass wir uns nie in die Erfahrung eines anderen hineinversetzen können. Auch wenn sich Organismen oder Vorgänge ähnlich seien, so könne man nur gewisse Teile davon erfahren. Man kann verstehen, wenn ein Mensch von einer traumatischen Erfahrung erzählt, weiß aber nicht, wie es sich anfühlt, er zu sein. Nagel, so interpretiert ihn Rafaela Scheiwiller, schliesse aber nicht aus, dass Physikalismus wahr sein könnte. Nagel unterstreiche lediglich, dass wir weit davon entfernt seien, subjektive Erfahrungen und Bewusstsein als solches mit physikalischen Prozessen erklären zu können. Für Nagel seien „Befürworter dieser Theorie vergleichbar mit einem vorsokratischen griechischen Philosophen, der aussagt, dass Masse Energie ist“.

Obwohl Castor und Pollux Menschen sind, allerdings ist einer davon unsterblich,

können ihre Verhaltensweisen und emotionalen Reaktionen tierische Züge annehmen. In der Natur sind Tiere oft von Instinkten geleitet, die sie zu impulsiven Handlungen treiben. Castor, der als Sterblicher eine begrenzte Zeit hat, agiert mit einer gewissen Unbeschwertheit und Freiheit, die an das Verhalten eines Tieres erinnert, das in der Gegenwart lebt und die Gefahren des Lebens nicht fürchtet.

Pollux hingegen, als Unsterblicher, trägt die Last der Verantwortung und der ewigen Existenz, was ihn in einen Zustand der inneren Zerrissenheit versetzt. Diese duale Natur der Brüder spiegelt die tierischen Instinkte wider: Castor ist der spontane, lebendige Teil, während Pollux die nachdenkliche, verantwortungsvolle Seite verkörpert.

Der Krieg, der in der Oper als Hintergrundkonflikt dient, wird zum entscheidenden Wendepunkt in Pollux’ Leben. Er ist nicht nur ein äußerer Konflikt, sondern auch ein innerer Kampf, der die Brüder auseinanderreißt. Castor, der als Sterblicher in den Krieg zieht, wird von einem feindlichen Herrscher erschlagen. Dieser Verlust trifft Pollux ins Mark und stellt ihn vor die größte Herausforderung seines Lebens. Der Tod seines Bruders ist nicht nur ein persönlicher Verlust, sondern auch ein politisches Desaster, das die Stabilität seines Reiches gefährdet.

Pollux’ Trauer über Castors Tod ist tief und überwältigend. Pollux empfindet eine tiefe Staatspflicht gegenüber seinem Volk, die aus seiner Position als Unsterblicher resultiert. Diese Verantwortung ist nicht nur eine formale Pflicht, sondern ein innerer Antrieb, der ihn dazu zwingt, das Wohl seiner Untertanen über seine eigenen Wünsche zu stellen. Als Herrscher ist er sich der Konsequenzen seiner Entscheidungen bewusst und fühlt sich verpflichtet, für Frieden und Stabilität zu sorgen.

Anima und die emotionalen Konflikte

Der Begriff „Anima“ bezieht sich auf die Seele oder den inneren Zustand eines Wesens. Nach C. G. Jung ist Anima Seelenbild, Ausdruck der Seele und Seeleninhalt zugleich. „Animus“ und „Anima“ erläutert Jung als innere Figuren in unseren Träumen und Fantasien weisen sie auf unsere innere Gestimmtheit hin.Im Außen als eine Person gesehen, werden Teile unserer unbewussten Psyche projiziert.

Im Vortrag der C.G. Jung Gesellschaft in Köln erfährt man, C. G. Jung beschreibe „die Anima als das weibliche Potenzial in jedem Mann, als seine Seelen­führerin, und den Animus als das männliche Potenzial in jeder Frau. Aus diesem Verständnis heraus kann man in den Träumen den eigenen andersgeschlechtlichen Urgrund erleben. Daraus erschließt sich eine Möglichkeit, sich der eigenen Projektionen bewusst zu werden und das eigene Beziehungsverhalten anzupassen. Das ist die psychodynamische Dimension von Animus und Anima. Darüber hinaus sind Animus und Anima als Seelenführer symbolischer und kreativer Ausdruck des Selbst und damit Begleiter auf dem Weg unserer Individuation“.

In der Oper Castor und Pollux werden Anima und Animus der Charaktere durch ihre Beziehungen und Konflikte deutlich.Telaire und Phebe, die beiden Frauen, stehen nicht nur im Zentrum der männlichen Begierde, sondern verkörpern auch unterschiedliche Aspekte der weiblichen Anima. Telaire, die beiden Brüdern heiß begehrte Frau, wird zur Quelle Lust, während die ungeliebte Schwester Phebe, die sich in Pollux verliebt, die Rolle der Rivalin einnimmt. Diese Dynamik führt zu einem emotionalen Konflikt, der die Brüder in einen Wettstreit um die Liebe und die Gunst der Frauen zwingt.

Pollux’ innere Qual, die aus seiner Unsterblichkeit resultiert, wird durch Anima und Animus erklärbart. Er ist gefangen zwischen der Pflicht, sein Volk zu regieren, und dem Verlangen, seine persönliche Freiheit zu leben. Diese Zerrissenheit ist vergleichbar mit dem Zustand eines Tieres, das zwischen dem Drang zu überleben und den sozialen Bindungen innerhalb seiner Gruppe hin- und hergerissen ist.

Animus und Anima als Begriffe der Analytischen Psychologie beschreiben zwei der wichtigsten Archetypen, die laut Jung im kollektiven Unbewussten angelegt und von individueller Erfahrung unabhängig sind. Die Affekte der Gefühle in „Castor und Pollux“ reichen von Liebe und Begierde über Trauer und Verlust bis hin zu Schuld und Verantwortung. Pollux’ Liebe zu Telaire ist von einer tiefen Sehnsucht geprägt, die ihn dazu treibt, alles zu riskieren, um seinen Bruder zurückzuholen. Diese Liebe wird jedoch von der Schuld und der Verantwortung überschattet, die er als Unsterblicher trägt. Castors Tod versetzt ihn in einen Zustand der Verzweiflung, der sich in Stimmungen und Launen spiegelt und ihn in einen emotionalen Konflikt stürzt.

Castors Trauer über den Verlust seines Lebens und seiner Freiheit wird durch die Unfähigkeit Pollux’ verstärkt, ihn loszulassen. Pollux’ Entscheidung, in die Unterwelt zu gehen, um Castor zu retten, ist ein Akt der Selbstaufopferung, der seine Liebe und Loyalität zu seinem Bruder zeigt, aber auch seine eigene Unfreiheit betont.

Der Konflikt und die Auflösung

Der Konflikt zwischen den Brüdern wird durch die Rivalität um Telaire weiter angeheizt. Castor, der als Sterblicher die Liebe und das Leben in vollen Zügen genießen kann, wird durch den gewaltsamen Tod aus seiner Freiheit gerissen. Pollux’ verzweifelter Versuch, seinen Bruder zurückzuholen, wird von Telaire manipuliert, die ihre eigene Anima nutzt, um Pollux zu beeinflussen. Diese Manipulation zeigt, wie die emotionalen Zustände der Charaktere ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen.

Die Lösung des Konflikts, in der beide Brüder unsterblich werden und als Sternenbilder in den Himmel aufgenommen werden, symbolisiert eine Art von Erlösung. Sie transcenden die menschlichen Konflikte und die damit verbundenen emotionalen Qualen. In diesem neuen Zustand sind sie nicht mehr an die irdischen Sorgen gebunden, sondern finden Frieden in der Unsterblichkeit. Diese Transformation kann als eine Rückkehr zur tierischen Unbeschwertheit interpretiert werden, in der die Brüder in einem neuen, harmonischen Zustand existieren.

Fazit:

In Rameaus Castor und Pollux wird die Verbindung zwischen menschlichen und tierischen Instinkten spannend dargestellt. Die Konflikte der Charaktere zeigen ein Netz aus Begierde, (Staats-)verantwortung und Liebe. Die tierischen Verhaltensweisen der Brüder und ihre Emotionen laden den Zuschauer ein, über menschliche Beziehungen nachzudenken.

Danke an den Kulturbotschafter des UniWehrsEL für den Beitrag und Ihnen für einen Kommentar

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