Staatstheater Darmstadt: „Don Quichotte“ – Spider-Man, Männlichkeit, Ritterlichkeit oder wieviel Tier steckt im Mann?
In der Inszenierung von Jules Massenets „Don Quichotte“ am Staatstheater Darmstadt, unter der Regie von Mariame Clément am 31.08.25 entfaltet sich ein überraschendes Theatererlebnis, das klassische Ritterromantik, moderne Bürorealität und popkulturelle Identitäten zu einem Spiegel über Männlichkeit, Stärke und Kampf formt. Der Theaterkritiker I. Burn hat die interessante Inszenierung für die Leser des UniWehrsEL verfolgt.
Liebe Leser des UniWehrsEL,
gleich zu Beginn bricht das Stück mit Erwartungen: Ein ironisch-glänzender Werbespot von Gillette fragt in Großaufnahme: Wann ist ein Mann ein Mann? Diese Reklame, perfekt inszeniert als provokanter Kommentar, führt den Zuschauer in ein Diskursfeld über Rollenbilder und Leistungsdruck.Die gleiche Frage hatte auch schon Herbert Grönemeyer 1984 gestellt. Ein Schauspieler tritt vor das Publikum und spricht offen über Männlichkeit — nicht belehrend, sondern provokativ und komisch zugleich — und diskutiert mit dem verblüfften Publikum, wie „Fleiß richtig gegrillt“ wird: Arbeitsethos als ritualisierte Leistungsschau. Die intime Direktheit dieses Monologs löst ein kollektives Nachdenken aus, bis Don Quichotte selbst hervortritt, zunächst sitzend als Zuschauer in glänzender Ritterrüstung, der die Szene stört und den Gesprächsführer auf die Bühne zieht. Dieser Moment, in dem Publikum und Bühne verschmelzen, markiert den Übergang vom Diskurs zur Allegorie.
Tradition trifft Transposition: Die Inszenierung beginnt im vertrauten Ritter-Setting — Rüstung, Schwert, Esel — und bewahrt die ikonischen Bilder Massenets, doch Clément bricht die historische Distanz, indem sie denselben Helden später in einem Großraumbüro neu einführt. Don Quichotte erscheint als zwei Aspekte einer Figur: einmal als majestätischer, etwas tollpatschiger Ritter in polierter Rüstung, dann als nerdiger Büroangestellter mit Brille — eine Alltagsgestalt, die äußerlich unscheinbar, innerlich jedoch weiterhin ritterlich ist. Diese Doppelung erzeugt einen starken Kontrast: optisch verändert, bleibt sein Verhalten ehrenhaft gegenüber Dulcinée; die Form wechselt, der Kern bleibt.
Im flackernden Licht eines überfüllten Badezimmers geraten Gegenstände plötzlich in Bewegung — ein skurriles Spielfeld, in dem der Kampf der Windmühlen als witziges, überraschendes Spiel inszeniert wird. Don Quichotte und sein Diener stehen zwischen Waschbecken, Dusche und aufgehängten Handtüchern. Aus der Decke hängt ein großer Ventilator — die Windmühle in dieser Szene — dessen rotierende Blätter Schatten wie riesige Hände über Fliesen und Spiegel werfen. Die beiden Männer betreten das Terrain wie Schauspieler in einem absurden Ritual: der Diener als Rocker mit Lederjacke, Nieten und lässigem Schlurf, Don Quichotte zitternd und hektisch, wie ein aufgescheuchtes Tier.
Die Szene ist witzig und überraschend: Gefahr entsteht aus Banalem, Komik aus dem Übertriebenen. Don Quichotte wirkt animalisch: Augen weit, Körper angespannt, Bewegungen schnell und unberechenbar — das aufgescheuchte Tier inmitten von Porzellan und Chrom. Der Rocker bleibt ruhig-provokant, kommentiert Geschehen mit knappem Sarkasmus und zieht gelegentlich die Zuhörer durch Gesten ins Geschehen.
Der Zuschauer spürt eine Vorahnung auf Spider-Man und dem Animal in Don Quichote, weil sein Zappelverhalten und seine unfreiwilligen Bewegungen an jemanden erinnern, der in einem unsichtbaren Netz gefangen ist. Diese Körpersprache legt die Idee nahe, dass ein Spider-Man-ähnliches Alter-Ego nicht fern ist — jemand, der mit Netzen und Fäden arbeitet, der das Gleichgewicht durch Geschmeidigkeit und Schnelligkeit wiedererlangt (übrigens Spider-Man 4 mit Tom Holland kommt gerade in die Kinos)..
Warum Don Quichotte die Spinne als Identifikationsfigur verwendet: Don Quichotte wählt die Spinne als Symbol, weil sie mehrere Qualitäten vereint, mit denen er sich identifiziert. Don Quichotte identifiziert sich mit der Spinne, weil in ihr für ihn vieles zusammenkommt, was sein eigenen Handeln und Sein erklärt: Wie die Spinne webt er an einem eigenen Gefüge — an Idealen, Geschichten und manchmal an einer Realität, die anderen absurd erscheint, aber ihm Halt gibt. Die Spinne ist dabei kein bloßes Symbol der Gefahr, sondern ein Bild fürs Konstruieren und Verbinden; geduldig spinnt sie ihr Netz, plant ihre Falle und wartet, statt blind voranzustürmen. Diese Strategiefähigkeit bewundert Don Quichotte und erkennt sie als Verwandtschaft zu seinem beharrlichen Streben nach Ehre.
Gleichzeitig steht die Spinne für eine unterschätzte Wirkmacht: klein, unscheinbar, aber mit Netz und Biss fähig, Großes zu bewirken. So sieht sich der Ritter — äußerlich lächerlich, innerlich jedoch handlungsfähiger, als man ihm zutraut. Das Netz selbst symbolisiert für ihn sowohl Gefangensein als auch Schutz; es ist ein Geflecht aus Beziehungen, Pflichten und Regeln, das ihn bindet, aber ihm auch Halt bietet, wenn die Welt stürmisch wird. In dieser Ambivalenz findet Don Quichotte ein Bild seiner Lage: verletzlich und doch nicht ohnmächtig.
Außerdem spricht ihn die Spinne auf einer existenziellen Ebene an: ihre Ruhe, ihre Präzision, die Mischung aus Fallenstellen und Beharrlichkeit spiegeln seine eigene Art zu kämpfen — nicht immer durch rohe Gewalt, sondern durch List, Ausdauer und die Fähigkeit, in der Stille die richtige Faser zu finden. Indem er sich mit der Spinne identifiziert, anerkennt er sein Anderssein, seine Verwundbarkeit und zugleich seine kreative Macht; er macht aus dem vermeintlich Schwachen eine Quelle von Würde und Wirksamkeit.
Der Kampf im Großraumbüro wird zur modernen Variante der Windmühlen: Hier drehen sich nicht nur Ventilatoren, sondern Organisationsdiagramme, E-Mail-Fluten und Sichtbarkeitspfade. Männlichkeit und Stärke müssen sich neu behaupten — nicht durch Muskelkraft, sondern durch Präsenz, Schlagfertigkeit, Flexibilität. Don Quichottes ritterliche Attitüde wirkt in diesem Kontext beinahe anachronistisch, gilt aber weiterhin als moralischer Kompass gegenüber Machtspielen und Bürointrigen. Er kämpft für Anstand, während andere um postfaktische Karrierevorteile fechten.
Ein besonderer dramaturgischer Einfall ist die Verwandlung des Alter-Egos: Spider-Man tritt als Gegenbild und Ergänzung auf. Beide Figuren teilen eine heroische Verantwortung, doch sie unterscheiden sich in Ausdruck und Strategie. Don Quichotte ist idealistisch, zielstrebig und traditionell; Spider-Man ist agil, flink, geschmeidig und technisch versiert — der eine ein Symbol ritterlicher Standhaftigkeit, der andere ein Spiegel urbaner Anpassungsfähigkeit. In ganzen Sätzen formuliert: Don Quichotte sucht Ehre durch äußere Tat, Spider-Man übernimmt Verantwortung durch flexibles Handeln; Don Quichotte kämpft mit Schwert und Symbolen, Spider-Man mit Netzen und Beweglichkeit. Zusammen zeigen sie, dass Männlichkeit weder eindimensional noch statisch ist, sondern ein Geflecht aus Mut, Empathie und Anpassungsfähigkeit.
Spiderman tritt in der Inszenierung als Spiegel der Seele in Erscheinung. Tiere stehen dem Menschen besonders nah, weil sie unmittelbare Triebe, unvergiftete Reaktionen und ehrliche Bedürfnisse verkörpern; sie spiegeln archaische Anteile, die durch gesellschaftliche Masken oft überdeckt werden. Die Frage „Wie viel Tier steckt im Mann?“ beantwortet das Stück nicht als theoretisches Diktum, sondern als szenische Erfahrung: Menschen verhalten sich instinktiv, rücksichtsvoll oder territorial — und genau dieses Tierische ist oft Grundlage von Mut und Schutzbereitschaft.
Im späteren Teil wird die zentrale Frage wiederholt: Wie kommt ein Mann im Großraumbüro zurecht? Don Quichotte in Brille demonstriert, dass äußerliche Transformationen nicht das innere Kodex ersetzen — und gerade diese Diskrepanz macht ihn zur empathischen Figur: ein Nerd, der trotzdem ritterlich handelt, ein moderner Held, der versagt, aufsteht und weitermacht.
Fazit: Die Produktion vereint Traditionsbewusstsein und zeitgenössische Relevanz. Regie von Mariame Clément gelingt es, mit einem sinnvollen Bruch die Leitmotive Männlichkeit, Stärke und Kampf und wie viel Tier steckt im Mann neu deutet, indem sie Ritterromantik, Büroalltag und Superhelden-Mythos zu einer dichten, poetischen Collage verschränkt. Tiermetaphorik verstärkt die emotionale Ehrlichkeit der Figuren; die Doppelgestalt Don Quichottes/Spider-Man macht sichtbar, dass Mut verschiedene Formen hat — anatomisch alt oder jung, ästhetisch ritterlich oder agil-urban. Das Stück bleibt humanistisch: Es fordert nicht die Antwort, sondern die Bereitschaft, die eigene Vorstellung von Männlichkeit kritisch und mitfühlend zu überprüfen.
Mit freundlichen Grüßen
I. Burn
Herzlichen Dank für den Beitrag und wieder einmal die wunderbaren Bilder auf Pixabay!
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