Thomas Kraft zum Buch von Andreas Reckwitz: „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“
Am Mittwoch, den 9.07.25 durften wir passend zu den Seminaren „Sehnsucht“ und „Halbwahrheiten“ einen ganz besonderen Referenten begrüßen: Thomas Kraft. Seine reiche Lebenserfahrung beruht nicht nur auf seinem Beruf als Pfarrer, sondern führte ihn über eine Buchhändlerlehre, weiter zu einem Geschichtsstudium in Bristol und Hamburg, hin zur Tätigkeit als Lektor und Verleger in London, bis zum Bundesgeschäftsführer und Verlagsleiter beim Christlichen Sängerbund in Wuppertal. Selbst Autor von Büchern wie etwa „Lean Management im Krankenhaus“, „Cohen“ oder „Der nackte Wahnsinn“ brachte er uns die Grundgedanken des Soziologen Andreas Reckwitz und dessen Sachbuch „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ zu Gehör. Herzlichen Dank, auch im Namen meiner Studierenden, lieber Herr Kraft, zu diesem ausgezeichneten Vortrag, aus dem wir im UniWehrsEL einige Ideen vorstellen dürfen.
Andreas Reckwitz, *1970 Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität Berlin Bisherige schrieb unter anderem die Bücher „Gesellschaft der Singularitäten“, „Spätmoderne in der Krise“. In der Beschreibung zu „Verlust“ kann man nachlesen, dass Verluste die westlichen Gegenwartsgesellschaften in großer Zahl und Vielfalt bedrängen und die verunsicherten Menschen in die Arme von Therapeuten und Populisten treiben können. Verlusterfahrungen und Verlustängste scheinen immer weiter zu eskalieren. Wie ist das zu erklären?
Thomas Kraft beginnt seinen Vortrag mit der Frage: „Was ist ein Verlust”? Verlust hängt zusammen mit dem negativen Erleben des Einzelnen oder auch der gesamten Gesellschaft durch das Verschwinden von Dingen, Objekten, sozialen Praktiken. Voraussetzung, etwas als Verlust zu erleben, sei eine emotionale Bindung zum Verlorenen, zudem sei der Verlust irreversibel und bleibe unverfügbar. Diese Verlusterfahrung sei Identitätsbildend und bewirke, sich nicht mehr als der zu empfinden, der man einmal war. Der Mensch könnte dabei sein Gleichgewicht verlieren.
Neben dem konkreten Verlust von nahestehenden Menschen, könnten auch Dinge, Räume, Gebäude und Status als „relative Verluste“ empfunden werden. Darüber hinaus gäbe es auch „kulturelle Verluste“ und biographisch, historisch, individuell, kollektive Verluste, die unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsaussichten beeinträchtigen könnten.
Während traditionelle Verlustpraktiken wie etwa Trauerrituale in sozialen Gemeinschaften kollektive Identitäten formten, die im Kontext des Verlustes als unbestreitbar galten, seien Verluste heute umstritten: es gäbe Verlustarenen und Verlustkämpfe. Dies werfe die Frage auf: welche Verlusterfahrungen sind legitim, welche illegitim? Welche Verluste werden anerkannt?
In der Moderne gäbe es eine „Innere Logik“ der modernen Gesellschaft. Diese basiere auf Fortschrittsgedanken – alles wird immer besser – die in einen Fortschrittsimperativ mündeten. Nach dieser Logik funktionieren alle Institutionen (Reform, Optimierung, Verbesserung, Weiterentwicklung, Progression) und habe zur Folge, dass die Vergangenheit heute kein Ideal mehr sei, als überwunden gelte und bestenfalls sei diese „eine Vorstufe zum Heute, das aber wiederum nur Übergangszustand zum besseren Morgen ist.“
Verluste im Konflikt mit Verlusterfahrungen widersprächen somit dem Grundnarrativ der Moderne, die Verlust nicht auf den Blick zurück, statt nach vorn richte. Für den Verlust stelle die Zukunft eine Bedrohung dar, denn die Logik der Moderne verspräche Verbesserung ohne Verluste. Die Erfahrung des Verlusts sei in diesem Sinne ein Störsignal in dieser Harmonie. Dies bedinge die Ausbildung von Praktiken in der Moderne, um Verluste zu minimieren durch Wissenschaft und Medizin, Ökonomie und Versicherungswesen. Ziel sei die „Unsichtbarmachung von Verlusten“, da wo Verhinderung nicht möglich sei, wie beispielsweise beim Thema Tod.
Ein Problem sei zudem die Verlustpotenzierung in der Spätmoderne, denn die zahlreichen Krisen der Moderne lösten Verlustschübe aus wie zum Beispiel den Ölschock, das Erkennen der „Grenzen des Wachstums“, dem wachsenden Terrorismus, die Folgen von 11. September und Covid. Kriege oder Klimawandel seien „Kipppunkte“. Dystopien, Katastrophenszenarien, Apokalypse führen zu „Fortschrittsverlust“: „Dem Versprechen der Moderne wird nicht mehr vertraut. Kommt die Moderne an ihr Ende? – Skepsis gegenüber den Institutionen, die den Fortschritt sichern sollten: Technik, Ökonomie, Staat.“
Nach Reckwitz beschreibt Kraft Konfliktfelder, die Verlustschübe bedingen. Wer seien die Verlierer des Fortschritts oder wer die Gewinner? Es stelle sich die Frage nach einer „neuen Mittelklasse“, die andere Werte habe und andere Ziele verfolge. Der Klimawandel führe zu politischer Polarisierung, die gefühlte Regression zu Populismus. Kontroversen werden zu historischen Phänomenen wie Kolonialismus, und Sklaverei geführt. Verluststeigerung werde durch Emotionalisierung erfahren und führen zu Diskussionen um eine „Alternde Gesellschaft“.
Thomas Kraft lenkt den Fokus zum Ende seiner interessanten Ausführungen zu Reckwitz zusammenfassend auf Kontroversen und daraus resultierenden Fragestellungen:
1. Welche Verluste sind sichtbar und werden anerkannt? Wessen Verluste zählen?
2. Verlustvergleiche (Israel / Gaza)
3. Verantwortung und Schuld
4. Welchen Ausgleich gibt es, welche Gegenmaßnahmen greifen?
5. Konflikte zwischen Gewinnern und Verlierern. (Aufsteiger / Absteiger, Migranten / Einheimische)
Wie könnte es weiter gehen? Die Zukunft des Projekts der Moderne sei offen. An der Bearbeitung der genannten Kontroversen entscheide sich, ob die Moderne Gesellschaft eine Zukunft habe oder scheitere. Die politischen Kontroversen würden wesentlich durch die unbearbeiteten Fragen nach den Verlusten befeuert. Der Populismus sei eine Antwort auf (oder ein Symptom) von nicht oder unzureichend gelösten Verlusterfahrungen.
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Danke für die Idee eines Verlustes von Zorro4 und weitere Impressionen auf Pixabay
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