Gedanken zu Andreas Reckwitz Buch „Verlust“, Brechts „Arturo Ui“, Manns „Mario der Zauberer“
In seinem Buch „Verlust“ analysiert Andreas Reckwitz die tiefgreifenden Veränderungen in der Gesellschaft und die damit verbundene Angst vor dem Verlust von Identität, sozialem Status und kulturellem Erbe. Diese Ängste sind nicht nur individuelle Empfindungen, sondern spiegeln sich auch in den kollektiven Erfahrungen der Mittelschicht wider, die sich zunehmend in einem Zustand der Unsicherheit befindet. Reckwitz stellt die Frage: Wie wird mit der Sehnsucht nach Stabilität und Zugehörigkeit umgegangen, wenn die Welt um uns herum immer unberechenbarer wird? Gerade in Gesellschaften, in denen kaum noch jemand an das bessere Morgen glaubt, bekommen die Enttäuschungswellen enorme Wucht. Diese Frage führt direkt zu den Themen in Bertolt Brechts „Der unaufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ und Thomas Manns „Mario und der Zauberer“.
Liebe Seminar-Talk Leser,
Brecht zeigt in seinem Stück, wie der kleine Gangster Ui, der in der rauen Welt des Chicago der 1920er Jahre agiert, die Ängste der Menschen ausnutzt, um sich zum Diktator aufzuschwingen. Die Mittelschicht, gefangen in der Angst vor dem sozialen Abstieg, wird zum Spielball seiner skrupellosen Machenschaften. Brechts Diktum, dass „die großen politischen Verbrecher der Lächerlichkeit preisgegeben werden müssen“, verdeutlicht, dass diese Figuren nicht aus überragenden Fähigkeiten bestehen, sondern aus der Fähigkeit, die Sehnsüchte und Ängste der Menschen zu manipulieren.
Reckwitz’ Thesen über den Verlust von Identität und sozialem Status finden hier eine eindringliche Entsprechung: Die Menschen klammern sich an die Hoffnung auf Sicherheit und Stabilität, während sie gleichzeitig in die Fänge von Opportunisten geraten.
Die Inszenierung von „Arturo Ui“ am Landestheater Salzburg, unter der Regie von Alexandra Liedke, greift diese Themen auf und setzt sie in einem zeitgenössischen Kontext um. Das Stück, das jeder kennt, wird als Gangsterstück inszeniert, das die Parabel über den Aufstieg eines Diktators eindringlich in die heutige Zeit überträgt. Die Bühne wird zur Showtreppe, auf der die Charaktere ihre skrupellosen Machenschaften ausleben, während die Zuschauer Zeugen der Manipulation und der Ausnutzung der Ängste der Menschen werden.
Am Ende des Stücks hält Arturo eine flammende Rede vor allen Bürgern, die er vollkommen manipuliert und eingeschüchtert hat. Die Inszenierung besticht durch das Herzblut der Schauspieler, die mit Leidenschaft und Intensität Arturo Ui und seine Schlägertruppe, das düstere Chicago zum Leben erwecken. Die dynamische Umsetzung verstärkt die Botschaft des Stücks und fordert die Zuschauer auf, die Mechanismen hinter dem Aufstieg autoritärer Figuren zu hinterfragen.
Ein vergleichbares Motiv finden der Leser in Thomas Manns Erzählung „Mario und der Zauberer“, in der die Faszination für den charismatischen, aber tyrannischen Zauberer Cipolla die Menschen in seinen Bann zieht. Die Novelle „Mario und der Zauberer“ basiert auf Erlebnissen, die Thomas Mann im Spätsommer 1926 während eines Urlaubs in Italien gemacht hat.
Der junge Erzähler Mario befindet sich mit seinen Eltern am Strand und erlebt, wie sich über den vermeintlich sorglosen Sommer eine dunkle Wolke legt. Mann spürte im Urlaub den Rechtsruck in Italien, als Benito Mussolini mit seinen Anhängern durch einen Marsch auf Rom die Macht ergriff. Ein Vorfall am Strand, als seine achtjährige Tochter Elisabeth nackt zum Wasser lief, löste einen Skandal aus und führte die Familie zu einem Zauberkünstler – aus diesem Erlebnis entstand die Novelle.
Thomas Mann erzählt die Geschichte des italienischen Zauberers Cipolla, der mit seiner Show das Publikum hypnotisiert. Er nutzt gezielt die Schwächen und Unsicherheiten der Menschen aus, um sie zu manipulieren und zu kontrollieren. Hier zeigt sich eine deutliche Parallele zur literarischen Figur Arturo Uii, der ebenfalls durch geschickte Rhetorik und Manipulation die Menschen aufstachelte.
Halbwahrheiten, die Cipolla meisterhaft einsetzt, sind Aussagen, die teilweise wahr, aber unvollständig oder verzerrt sind und somit ein falsches Bild vermitteln. Diese Halbwahrheiten sind besonders gefährlich, da sie oft glaubwürdiger erscheinen als offensichtliche Lügen.
In der Inszenierung am Staatstheater Darmstadt wird Cipolla als Puppe dargestellt, was einen ironischen Bruch schafft. Während Cipolla normalerweise sein Publikum durch eindringliche Reden zu Puppen erstarren lässt, manipuliert hier die Puppe direkt das Publikum. Diese Umkehrung der Machtverhältnisse stellt die Verführungskunst des Zauberers in Frage, denn wer fällt schon auf eine Puppe herein? Besonders bemerkenswert ist, dass die Rolle des Zauberers von mehreren Puppenspielern dargestellt wird, was der Aufführung einen besonderen Reiz verleiht. Die Puppe, als hässlicher Typ gestaltet, zieht mit ihrer melodischen Stimme das Publikum in ihren Bann und erzeugt eine beklemmende Atmosphäre.
Auch hier wird die Angst vor dem Verlust von Kontrolle und Sicherheit thematisiert. Die Protagonisten sind gefangen in einem Netz aus Manipulation und Macht, das sie letztlich in den Abgrund führt. Mann und Brecht zeigen uns, dass die Verführung durch autoritäre Figuren oft auf der Angst der Menschen basiert, die in Krisenzeiten nach Halt und Sicherheit suchen.
Die gesellschaftliche Kritik, die sowohl Brecht als auch Mann üben, ist heute ebenso relevant wie damals. Die Mittelschicht sieht sich mit der Angst konfrontiert, ihre Errungenschaften zu verlieren, während sie gleichzeitig die Gefahren des Aufstiegs skrupelloser Individuen in Gestalt von Arturo Ui oder dem Zauberer Cipolla ignoriert. Es ist an der Zeit, diese Ängste zu reflektieren und die Mechanismen zu durchschauen, die hinter dem Aufstieg solcher Figuren stehen.
Reckwitz’ Thesen über den Verlust von Identität und sozialem Status finden in diesen literarischen Werken eine eindringliche Entsprechung. Die Mittelschicht, die sich in der ständigen Sorge um ihren Status befindet, wird von den Ängsten getrieben, die Reckwitz beschreibt. Die Verführung durch autoritäre Figuren, die Sicherheit und Stabilität versprechen, ist ein wiederkehrendes Motiv, das sowohl in Brechts als auch in Manns Texten deutlich wird.
Mit besten Grüßen vom Kulturbotschafter im Team UniWehrsEL
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