Durchaus realistisch und dennoch unvorstellbar erscheint die Ausgangssituation des neuen Films von Gabriel Mascaro. Alte Menschen haben keinen Nutzen mehr für die Gesellschaft, deshalb werden sie in Kolonien ausgesiedelt. Nicht jedermanns Sache, so ein erzwungener Ruhestand abseits von Familie und Freunden, irgendwo im Jenseits in einer Altensiedlung – jedenfalls nicht für die taffe Teresa.
Tereza ist 77, lebt in einer Industriestadt im Amazonasgebiet und arbeitet in einer Alligator-Schlächterei. Ihre Tochter und deren kleiner Sohn besuchen sie zuweilen. Ein anderes Leben kann und will sie sich nicht vorstellen. Käme da nicht plötzlich, zwar mit 80 erwartet, aber dennoch viel zu früh für sie, die Anweisung der Regierung in die Alterskolonie zu ziehen. Was für Reiche in Florida wie etwa bei John Updikes „Rabbit in Ruhe“ zunächst als ein Traum eines sorgenfreien Alters-Lebens erscheint, klingt für Teresa wie ein Alptraum. Ein erzwungener „Genuss“, der die junge Generation entlasten soll, damit sie die Sorge um die Alten los sind und sich voll und ganz auf die geforderte Produktivität konzentrieren könne.
Freiwillig gehen in Amerika die Pensionäre ins „Falten-Reich“, leben in Sun City/Arizona, der größten Rentnerkommune der Welt. Obwohl man sich auch hier gern mal auf jugendlich trimmt – wer unter 55 ist, wird hier nicht aufgenommen.Ganz anders sieht dies Teresa im Film „Das tiefste Blau“.

Der Slogan „Die Zukunft gehört allen!“ den die alte Dame auf einem Banner am Flugzeug hoch am Himmel liest, ist für sie der Aufruf, sich noch einen Lebenstraum zu erfüllen. Brasilien wünscht den älteren Mitbürgern einen wunderschönen guten Morgen und erinnert an die patriotische Pflicht des Landes, sich um sie zu kümmern. Teresa hat zwar graue Haare, aber ansonsten ist eigentlich nichts an der von ihr durch Denise Weinberg verkörperten „Alten“ wirklich alt. So weiß sie auch nicht wirklich den riesigen Lorbeerkranz aus Metall zu würdigen, den Behördenmitarbeiter an den Türrahmen ihrer Holzhütte anbringen, um sie schon von außen sichtbar für ihre Altersverdienste zu würdigen.
Eine Behördenmitarbeiterin stellt ihr Fragen, die durchaus dem Katalog des sozialen Dienstes in Deutschland entsprungen sein könnten: Brauchen Sie eine Gehhilfe, Windeln? Braucht sie alles nicht, auch nicht die ihr überreichte Medaille, die sie als „Nationalerbin“ tragen darf.
Von nun an zeigt der Film beklemmendes Übergreifen des Staates wie Käfigkastenwagen, die die Alten aufsammeln, die zur Alterskontrolle aufs Amt müssen. Terezas Tochter wird die Vormundschaft übertragen. Sie verhindert zunächst auch durch ihre Nichteinwilligung Teresas Flucht, um ihren Lebenstraum, einmal zu fliegen, zu verwirklichen.
Teresa sucht nun illegal nach einem Bootsbesitzer, der sie an ihr Ziel bringen soll und findet ihn im verwilderten Schmuggler Cadu, hinreißend verkörpert von Rodrigo Santoro.

Gesellschaftliche Missstände und Diskriminierung nutzen Mascaro und der Co-Autor Azul um diese Dystopie warmherzig und liebevoll mit hinreisenden Bildern zu inszenieren. Überraschend und magisch entstehen in diesem originellen Film Metaphern und Bilder, wie unter anderem durch den halluzinogenem Schleim einer Schecke, der in die Augen geträufelt nicht nur „das tiefste Blau“ produziert, sondern auch von einer bisher nicht gekannten Wahrheit kündet.
Das klingt zwar weit hergeholt, ist aber durchaus realistisch, denn Schneckenschleim ist als Heilmittel durchaus bekannt, als Medizin sowie als Antifaltenmittel in der Kosmetik.
Verzaubernde Bilder der Flusslandschaft des Amazonas und eine Handlung, die zum Staunen einlädt, machen diesen beeindruckenden Film zu einem besonderen Erlebnis, einem atmosphärisch dichten Flirren, dass der in Brasilien geborene Mascaro im Zuschauer zum Leuchten bringt.

Eine taffe 77-Jährige widersetzt sich. Und so entwickelt sich ein hinreißend fotografierter »alternativer« Abenteuerfilm, ein „Boot-Movie“ oder eine gegenläufige „Coming-of-Age-Geschichte„.
Danke für Images und Bild von Jose Eduardo Camargo auf Pixabay