You are currently viewing Mitteilungen – wenn die Worte fehlen

Coming-of-Age-Romane waren hier im UniWehrsEL schon öfters ein Thema. Es geht um das Erwachsenwerden, das schön, aufregend und tragisch wahrgenommen wird. Kaum ein Lebensabschnitt ist so gekennzeichnet von tiefschürfenden Gedanken und Problematiken der Selbstfindung. Schon mehrfach haben wir die männlichen Protagonisten in diesen Phasen in Romanen begleiten dürfen. Aber betrifft dieses „Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt” die jungen Mädchen nicht genauso? Und welche berühmte Schriftstellerin hat diesem Gefühlschaos ein besonderes Buch gewidmet?

Und was hat das alles mit “Mitteilungen” zu tun?

In unserem Beitrag „Kritik: Die Modernisierung meiner Mutter“ haben wir gleich drei männliche Erzähler beschrieben: „Auerhaus“ (Bov Bjerg), „Tschick (Wolfgang Hermsdorf), „Euphancholie“ (Benedict Wells) und natürlich den berühmten „Fänger im Roggen“ (Salinger). Sie alle eint, dass aus dem kleinen ruhigen, verträglichen kindlichen Gesellen, der wenig Ärger bereitete, plötzlich ein mies gelaunter, schroffer ,unzugänglicher, nur im Zimmer herumhängender miesepetriger Geselle geworden zu sein scheint. Kaum noch ansprechbar, oft widerwillig auf vermeintliche Kleinigkeiten reagierend, wirkt er im Zwischenzustand nicht mehr Kind und noch nicht erwachsen zu sein, zuweilen anziehend, öfters auch unbegreiflich. Über seine eigene Befindlichkeit sich mitzuteilen, gelingt ihm oder ihr in der Regel nicht.

Und da sind wir beim Thema des Schweigens angelangt. Im Kapitel 3 „Mitteilung“ (Itten, Schweigen 2018, S. 44)  geht es Theodor Itten „… um die blaue Stunde, die ‚lose Zunge‘, das Thema der nonverbalen Kommunikation, Körpersignale aus dem Unbewussten, die etwas mitteilen, das in der Spreche verschwiegen wird. Die Thematik der interpersonellen Wahrnehmung wird anhand von Beispielen aus dem Alltag durchleuchtet. In der zwischenmenschlichen Kommunikation gibt es viele Momente der sich entfaltenden Anschweigespirale. Wie steht es mit der inneren Zensur des Auszusprechenden? Wie nehmen wir die oft beklemmende Wahrheit wahr, in einer Beziehung (Liebes-, Arbeits-, Freundschaftsbeziehung etc.) nicht mehr frei sprechen zu können? Wie wird damit umgegangen?“

Eines seiner vielseitigen Beispiele gilt Lou-Andreas-Salomé (1861-1937). Nicht nur, dass er über das gesamte Buch hinweg kleine fiktive Dialoge zwischen ‚Lou‘ und ‚Sam‘ einschiebt, in denen es um die zahlreichen Facetten des Schweigens geht,

Lou: Magst du meine neue rote Bluse?
Sam: (schweigt, da er nicht direkt hinschaut) Oh ja, schön.
Lou: Aha, du magst sie nicht?
Sam: (zögert) Doch, doch …
Lou: Du musst sie nicht mögen.
Sam: Unsagbar schön.

(Itten, Schweigen,Mitteilungen, S. 55)

Er greift auch Andreas-Salomés Jugendroman „Ruth“ auf. Diese Ruth beschreibt er als „Protagonistin eines triumphalen Märchens“, in dem eine Schreiberin einzigartige wunderbare Begebenheiten beschreibt, „Aber nicht mit Worten“.

Worum geht es im Roman „Ruth“? Zunächst einmal um Lou Andreas-Salomé selbst. Sie ist Schriftstellerin, Essayistin, aus russisch-deutscher Familie stammende „Powerfrau“, wie wir sie bereits in einem Beitrag hier kennengelernt haben. Vor allem –  wenn auch nicht nur deswegen, –  berühmt für ihre Beziehungen zu Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud. Sie hat Anteil an grundlegenden Themen der Zeit, wie die Lebensreformbewegung, die Emanzipation der Frau, die Reformpädagogik sowie die Anfänge der modernen Soziologie und Psychoanalyse.

In ihren Romanen und Erzählungen beschrieb sie oft Probleme moderner Frauen, „die in einer traditionsverhafteten Umwelt eigene Wege zu gehen versuchen.“ …“Die Geschichte des Mädchens Ruth, das sich mit einer leidenschaftlichen Verve einen Platz im Herzen ihres Lehrers erobert und doch am Ende enttäuscht wird, traf gerade mit der stark psychologisierenden Beschreibung des Innenlebens der Titelheldin den Geschmack der Zeit.“ (Produktbeschreibung des Nachdrucks der Originalausgabe aus dem Jahre 1895).

Das Projekt Gutenberg ermöglicht einen kleinen Auszug zu lesen, um den Schreibstil Andreas-Salomés zu erfassen und ein wenig Einblick in den Roman, aber auch das, was man nicht in Worten auszudrücken vermag, zu nehmen. Es zeigt auch in welchen getrennten Welten sich Erik und Ruth kommunikativ bewegen:

Erik stand auf und ging ein paarmal durchs Zimmer. Dann blieb er vor Ruth stehn, die sich auf die Kante seines Stuhles gesetzt hatte. »Sage mir, gibt es mehr solcher fremden Menschen, die du auf der Straße grüßest?« »Ja, Alle Straßen sind voll davon.« »– Männer?« fragte er zögernd. »Auch Männer. Ich brauche immer frische für die Schule. Auch Frauen, Kinder, alte Leute.«

»Was meinst du damit, daß du Männer ›für die Schule‹ brauchst?«

»In den Geschichten für die Mädchen muß immer einer vorkommen. Am liebsten einer mit einem kleinen Schnurrbart. Aber ich habe auch andre Geschichten, – viel, viel schönere, – wunderschöne,« fügte sie lebhaft hinzu, – »und die mit Kindern sind mir die liebsten.«

»Erzählst du die den Mädchen in der Schule nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie finden sie nicht schön!‹ sagte Ruth traurig. Er setzte sich zu ihr auf einen Ledersessel, der am Fenster stand, und neigte sich ein wenig vor.

»Willst du sie künftig mir erzählen?« fragte er ernst, »aber alle, ohne eine Ausnahme. Und ohne einen Winkel, in den ich nicht hineinsehen könnte. Ich muß alles wissen und hören, was durch diesen phantastischen, unnützen Kopf geht. Wir wollen einen ordentlichen Vertrag machen: du sollst sie auch niemand sonst mehr erzählen. Nur mir. Immer, mit allem hierher kommen. Du wolltest ja hierher gehören. – Wirst du es bedingungslos und gehorsam tun?«

Ihre Augen waren groß und dankerfüllt auf ihn gerichtet; er konnte es an ihrem Gesicht sehen, wie die Gedanken in ihr vergebens nach Ausdruck rangen, aber er hatte dennoch keine Ahnung davon, mit welch einem innern Jubel ein neues Glück ihr aufging. Sie wollte es ihm so gern sagen, aber in ihrem wortarmen Gefühl verstummte sie statt dessen gänzlich, und plötzlich, als müßte sie sich anstatt des Wortes wenigstens durch die Gebärde helfen, glitt sie nieder vom Stuhl und kniete bei Erik hin, – wie auf einen ihr nun zugewiesenen Platz, erwartungsvoll, mit einem Blick wie ein Kind um Weihnachten.

»Ich kann es nicht sagen,« versicherte sie scheu, »bitte, bitte nicht.« …

Itten erklärt das beredte Schweigen in diesem Roman führe zu einem bestimmten Ergebnis: Das schweigsame Beieinandersein, in der Haltung herzlicher Zuneigung, ermöglicht die Einsicht, wie sie dadurch gleichzeitig weltenfern einander entrückt waren. “Dass keiner von ihnen teilhatte an der stummen Welt des anderen. Dieses Üben der eigenen bewussten Schweigsamkeit hat das Ziel, durch diese Wandlungsstille Ruths Abkehr von ihrem ehemaligen Geliebten Erik zu ermöglichen“. (vgl. ebd., 48)

Wir würden uns über einen Kommentar von Ihrer Seite her sehr freuen!

Danke für das Bild der Beziehung von Mann und Frau von Gerd Altmann auf Pixabay.