Fast zehn Jahre nach der als „Kultoper“ beschriebenen Laufenberg Inszenierung möchte unser Kulturbotschafter des UniWehrsEL Ihnen nochmals eine andere Fassung dieser Geschichte nahebringen, diesmal geht es um eine Inszenierung in Darmstadt. Vielleicht finden Sie so einen Vergleich auch einmal ganz anregend? Im Plädoyer für Klytämnestra, die “böse” Mutter, die den geliebten Vater Elektras, Agamemnon, umbringt kommt noch einmal ein ganz anderer Aspekt zum Tragen. Dazu eine Buchempfehlung.
Liebes UniWehrsEL,
am 18.05.24 habe ich eine Vorstellung von „Elektra“ am Staatstheater Darmstadt besucht. Zunächst sieht der Zuschauer auf Geier. Sie fliegen. Sie schweben. Sie lauern. Sie beobachten. „Elektra“ von Richard Strauss ist, wie Sie diese bereits in der vor fast 10 Jahren stattgefunden Laufenberg-Inszenierung und von mir besuchten Aufführung erinnern werden, eine Oper über die Rache einer Tochter an der eigenen Mutter. Elektra leidet darunter, dass ihre Mutter den geliebten Vater Agamemnon in der Badewanne ermordet hat, als er aus dem Trojanischen Krieg zurück gekommen ist. Gemeinsam mit ihrem Liebhaber hat Klytämnestra den Vater heimtückisch ermordet. Diesen Verlust kann Elektra nicht überwinden
Das Textbuch von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss war stark beeinflusst von den Lehren von Sigmund Freud. In der Inszenierung von Karsten Wiegand lässt dieser den Liebhaber von Klytämnestra wie den berühmten Sigmund Freud aussehen. Das ist ein spannender Moment in dieser Inszenierung, die ganz die Figur Elektra in den Vordergrund schiebt. Die anderen Figuren tragen schwarze Kostüme und sind teilweise nur zu hören, aber nicht aktiv zu sehen. Das soll die Perspektive aufzeigen, aus der Elektra von Karsten Wiegand gezeigt wird. Sie ist auf sich bezogen. Sie lebt nur in ihrer eigenen Gedankenwelt. Diese dreht sich um Rache. Es geht um Rachephantasien. In Wiegands Inszenierung ist Elektra kahlköpfig und irgendwie alterslos. Als habe sie sich selbst überlebt.
Auch die Schwester Chrysothemis ist kahlköpfig, so wie auch die Mutter. Das soll vielleicht andeuten, dass der ganze Geschlechterstamm verdorben ist? Elektra befindet sich hier in einem abgeschlossenen Raum. Es gibt keine Ablenkung für sie. Sie hockt dort wie auf einem Stein. Um sie herum sind Kindheitserinnerungen, die sie aufgeschrieben hat. Die Kindheitserinnerungen werden in Videos gezeigt. Es ist eine triste Welt. Hoffnung auf Veränderung gibt nur Orest der Bruder. Auf dessen Rückkehr wartet Elektra sehnsüchtig. Doch er scheint bereits tot zu sein, wie alle anderen für Elektra wichtigen Personen. Deshalb versucht sie die Schwester für ihren Mordplan zu gewinnen. Diese hat aber kein Interesse daran. Sie kann Elektra nicht verstehen. So führt das Gespräch ins Nichts.Dann taucht plötzlich ein weißer Ritter im weißen Mantel auf. Für Elektra gibt es Hoffnung. Kommt nun das Happyend? Elektra erwacht aus ihrer Starre. Doch dann legt der Ritter den Mantel ab. Auch er ist kahlköpfig. Es ist Orest. Der Verlorene kehrt zurück. Nun hält Elektra nichts mehr zurück. Endlich kann sie ihre Rache vollenden. Bei Wiegand ist diese Rache ganz unblutig. Vielleicht gibt es diese Rache nur in Elektras Kopf? Zu sehen ist die Ermordung von Mutter und Liebhaber nicht. Orest taucht auf. Er verschwindet aber genauso lautlos wieder. Zurück bleibt Elektra. Doch nicht allein. Die Geier lauern. Sie warten auf Beute. Auf Elektra.
Der Elektrakomplex nach C.G. Jung ist das Gegenstück zum Ödipuskomplex. Auf diese Spielart deutet nun Freud als Figur auf der Bühne hin. Sie erscheint im Zuschauerraum. Wird dieser Freud Elektra helfen, ihr Trauma zu überwinden? Nein, er ist das zweite Mordopfer von Elektras Rache. Er betritt die Bühne wie ein Zuschauer und wird doch sogleich ein Teil des Geschehens. Sobald er die Bühne betritt, kann er sie nicht mehr verlassen. Da kann der Freud noch so cool an der Zigarre ziehen. Elektras Rache wird er nicht entgehen.
Wiegand wählt in seiner Inszenierung klassische Motive aus der Horrorliteratur. Die Geier erinnern an einen Text von Edgar Ellen Po. Die Geier lauern. Sie schreiten nicht zur Tat. Das ist auch nicht nötig, weil Elektras größter Feind ist sie selbst. Es ist ein zähes Ringen mit sich selbst. Auf der Bühne ebenso zu sehen sind nackte Schaufensterpuppen. Sie stehen für die traurige Familie der Atriden. Von vier Kinder ist eines bereits tot. Iphigenie. Diese Tochter hat Agamemnon geopfert als er guten Wind für die Überfahrt nach Troja brauchte. Dieses Opfer hat seine Frau ihm nie verziehen. Diese Tat ist der Auslöser für Klytämnestras Rache an ihrem Mann, seiner Ermordung. Doch muss Klytämnestra nun mit dem Mord leben. Den Liebhaber hat sie verloren. Sie kann nicht mehr ruhig schlafen. Ahnt sie doch, dass es eine Rache auf ihre Rache geben wird. Deshalb hat sie Elektra in ihr Zimmer verbannt. Zwar in ihre Nähe aber unter Beobachtung und vermeintlicher Kontrolle. Rache macht nicht nur blind für die Umwelt, sondern lässt den Menschen auch noch paranoid werden. Ob Elektra ihre Mutter mit ihrer Ermordung sogar von den inneren Qualen erlöst sei mal dahingestellt. Darüber erfahren die Zuschauer in der Inszenierung nichts.
Der Zuschauer kann aber aus dem Stück lernen, dass die Rache das Wesen des Menschen verändert. Er wird vereinzelt und lebt nur noch in seinen Phantasien. Doch auch die Rachetat bringt nicht immer die erhoffte Lösung. Im Endbild wirft Wiegand die Frage auf, ob nun die Schwester ebenfalls zur Rächerin wird. Sie beobachtet Elektra intensiv. Plant sie schon den Mord an Elektra? Dann hätte die Rache von Elektra eine neue Rache der Schwester ausgelöst. Die Geier warten. Sind sie die Rachegötter, welche die Menschen zu ihren Taten antreiben?
Es ist eine düstere Inszenierung. Sie zieht den Zuschauer in den Bann. Sie ist ein böses Märchen ohne Happyend. Die Figuren sind zwar nicht im Wald gefangen aber in ihren inneren Gedanken. Gedanken können mächtig sein. Sie können die Welt verändern. Auch wenn es nur die Eigene ist. Der Zuschauer lernt viel über Wahrnehmung, über die Isolation eines Menschen. Oder ist alles nur ein Traum aus dem Elektra nicht erwacht?
Rache hat viele Gesichter. So auch die Liebe einer Tochter zu ihrem Vater. Was sind wir bereit zu tun, wenn uns ein geliebter Mensch aus unserer Sicht zu früh verlässt. Wenn er aus einem Mord von unserem Herzen gerissen wird. Gewalt spielt in Elektra auch eine große Rolle. Elektra hat eine Gewalterfahrung gemacht. Das Erschlagen des geliebten Vaters mit einem Beil ist ein fürchterliches Trauma für Elektra. Diese Gewalt schwebt über ihr. Um die Gewalterfahrung zu überwinden greift Elektra in Selbstermächtigung selbst zum Mittel der Gewalt. Sie lehnt diese nicht ab, sondern greift danach. Wäre Elektra körperlich stärker, sie hätte wohl schneller ihre Gewalttat verübt. So braucht sie einen Gehilfen. Die Schwester weigert sich. Sie ist nicht von Elektras Gewalterfahrung betroffen. Dafür war die Schwester noch zu klein. Die Bindung an den Vater ist noch nicht so stark wie bei Elektra. Elektra verklärt den toten Vater aber auch für sich zum Helden.
Dabei übersieht sie das Schicksal von Iphigenie und wie kalt der Vater gegenüber einer anderen Schwester war. Orest ist für Elektra die starke Hand, die sie braucht um endlich das umzusetzen, wovon sie in ihren Träumen gelebt hat. Ohne die Rache wäre Elektras Lebens aus ihrer Sicht sinnlos. Nur die Rache gibt ihrem Leben den nötigen Sinn. Nach der Tat ist der Sinn erfüllt und Elektra braucht nichts mehr. Da kann die Schwester sie auch umbringen. Das wird Elektra nicht bewegen. Elektra ist ein Stück über einen Menschen, der den Status Quo nicht schätzt. Sie mag den Stillstand nicht. Sie hofft auf eine andere Zukunft, in der sie ihre Rache gehabt hat und damit der Schmerz über den Verlust des Vaters überwunden ist.
Bitte schreiben Sie mir Ihre Meinung da, mit freundlichen Grüßen der Kulturbotschafter des UniWehrsEL
Dazu fiel mir ein Buch in die Hände: Constanze Casati schreibt ein Plädoyer für Klytämnestra und fragt:
Ist Klytämnestra wirklich die Diabolische, mit „männlich-planendem“ Herz, wie es ihr in den attischen Tragödien zugeschrieben wird? Sie wurde von ihrem Vater gegen ihren Willen zur Ehe mit dem Heerführer Agamemnon gezwungen. Er gilt als grausam, machthungrig, tyrannisch. Er war bereit, die gemeinsame Tochter Iphigenie zu opfern, um günstigen Wind für den Kriegszug nach Troja zu bekommen. Kriegsgrund ist ihre Halb-Schwester Helena.
Lange missachtet und missbraucht, fängt Klytämnestra schließlich an sich zu wehren und nutzt Agamemnons Feldzug gegen Troja, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Nach seiner Rückkehr ermordet sie gemeinsam mit ihrem Liebhaber Aigisthos ihren Mann und seine trojanische Geisel Kassandra, der sie vorwirft, ein Verhältnis mit ihrem Gemahl zu haben. Klytämnestras Tochter Elektra verlangt von ihrem Bruder Orestes, die Tötung des Vaters zu rächen. Der befragt das Orakel von Delphi, das ihm zur Rache rät. Orestes tut es. Da aber Muttermord als schlimmstes aller Verbrechen gilt, verfolgen ihn von nun an die Erinnyen, die griechischen Rachegöttinnen.
Klytämnestra ist Mutter. Monarchin. Mörderin. Und vor allem Überlebende patriarchaler Gewalt. Sie ist nicht makellos, gewiss nicht. Da ist viel Wut. Und dann Tat. Die junge Texanerin Costanza Casati (Jahrgang 1995), in Norditalien aufgewachsen und altgriechische Literatur studiert, hat diese mythologische und bisher vornehmlich von Männern definierte Frauenfigur neu betrachtet und in eine Nacherzählung der alten Quellen gefasst. In England schoss das Buch auf die Bestsellerliste. Moderne & zeitgenössische Belletristik Costanza Casati Klytämnestra
Danke an Gordon Johnson und sein Bild der Geier auf Pixabay!