Du betrachtest gerade “Hoffmanns Erzählungen” – Facetten des Bösen im Wandel der Zeiten

Die Oper »Hoffmanns Erzählungen« handelt von menschlichen Konflikten und Problemen, die heute so aktuell sind wie zu E.T.A. Hoffmanns und Jacques Offenbachs Zeiten. Der Kulturbotschafter des UniWehrsEL hat die Vorstellung am 13.06.24 am Staatstheater Darmstadt besucht. Ihm stellte sich im Anklang an die Seminare „Die Psychologie der Rache“, die Frage nach der „Natur des Bösen“. E. T. A. Hoffmann kämpfte nach eigenen Angaben nicht nur gegen seinen Alkoholismus, sondern auch gegen einen unsichtbaren Gegner. Dieser sorgte dafür, dass Hoffmann sein Glück nicht finden konnte. Stattdessen verfiel er dem Seelentröster Alkohol; zumindest in der Inszenierung am Staatstheater Darmstadt. Sein Widersacher taucht dabei in vier Rollen auf.

Liebes UniWehrsEL,

Da ist zunächst die Rolle Graf Lindorf, der den Barkeeper im Weinlokal besticht, damit er Hoffmann ordentlich ‚abfüllt‘, um das Date mit der Sängerin Stella zu vereiteln. Lindorf gehört zu den bösen Männern, die ihren Mitmenschen das Dasein unerfreulich machen. Über die Militärs und lächerlichen Herrscher hat sich Jacques Offenbach immer gerne ereifert. Bösewichte wie besagter Lindorf, aber auch andere Bösewichter namens Spalanzani, Coppelius, Mirakel und Dapertutto scheinen das böse Handeln als etwas ganz Selbstverständliches zu verstehen.  

Eine weitere Rolle spielt Coppelius der Augenmacher. Er zerstört die Puppe Olympia, in die sich Hoffmann mit Hilfe der Brille der Liebe, einem geistigen Vorgänger der ‚rosarote Zauberbrille“ unsterblich verliebt hat. Philosophisch oder erkenntniskritisch betrachtet knüpft dies an die große Frage an, wie unser Gehirn unsere Wahrnehmungen manipuliert. Die Wirklichkeit, die wir glauben wahrzunehmen, ist zu großen Teilen Produkt unseres eigenen Gehirns. Während Spalanzani, Coppelius und Niklaus zu wissen glauben, Olympia sei ein Automat, erkennt Hoffmann sie als weibliches Wesen an. Er will sie lieben, weil er damit sein eigenes Lebendigsein und eine Erfahrung zwischen “Diesseits und Jenseits” erfährt, denn „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ – frei nach einem Beitrag im UniWehrsEL und Hermann Hesses Gedicht „Stufen“ interpretiert.

Das himmlisch schöne Geschöpf Olympia, von Hoffmann als Professor Spalanzanis Tochter anerkannt, erinnert auch heute noch an die Wirkung technischer Wunderwerke. Das macht die Geschichte von Spalanzanis Olympia gestern wie heute aktuell. In der griechischen Mythologie führt sie zu Pygmalion und seiner aus Elfenbein geformten Galatea. Aphrodite erhörte Pygmalions Flehen und erweckte Galatea zum Leben. Diesem Wunsch entspricht heute die japanische Firma „Orient Industry“ und produziert weibliche lebensecht wahrnehmbare Sexpuppen. Puppen gelten zudem als “Seelenverwandte“.

Die dritte Rolle nimmt der Arzt Dr. Miracle ein, der Antonia in den Tod treibt. Wieder zu singen würde ihren Tod bedeuten, so hat sie es bei Hoffmann verstanden. In ihrem Fieberwahn sieht Antonia, angetrieben und zum Singen ermutigt durch den bösen Dr. Miracle, sich auf der Bühne stehen und von einem Publikum umjubelt. Am Ende dieses Fiebertraums bricht Antonia in ihrer Kammer zusammen. Hoffmann findet Antonia tot auf. Dieser selbsternannte medizinische Scharlatan Miracle hat sein Vorbild in der Realität, früher wie heute berufen sie selbsternannte Heiler auf ihr Erfahrungswissen, auf Kosten des Leides anderer Menschen. Im Libretto der Oper wird der bekannte „Wunderheiler“ Samuel Hahnemann (1755 – 1843) beschrieben. Einer seiner Patienten war der Geiger Nicolo Paganini.

In der vierten Rolle des Bösewichts Dapertutto, eines Teufels, der gerne die Seele anderer Menschen raubt, verführt dieser Schurke die Kurtisane Giulietta. Diese Dame ist käuflich und verkauft Hoffmanns Liebe für einen großen Diamanten. Als Liebesbeweis verlangt Giulietta von Hoffmann seinen Schatten. Dieser wird in ein Gefäß gesperrt und Dapertutto übergeben. Eine „Giulietta“ gab es schon zu Zeiten des Alten Testaments, nur wird dort von ihr als „Rahab“ berichtet. Heute heißt sie dann vielleicht „Domenica“. Sie verspricht viel, hält wenig und treibt Männer dazu, ihre Seele zu verkaufen – ein kurzer Wahn und eine lange Reue folgen beim Verführten. Auch die Rolle des Zuhälters, (aktuell auch der Zuhälterin) ist alt. Hoffmanns Schatten bleibt ja nicht bei Giulietta, sondern geht an Dapertutto.

In Darmstadt hatte der Regisseur Dirk Schmeding es nicht so mit dem Schatten und lässt Hoffmann ein Duell ausfechten. Währenddessen verschwindet die Kurtisane heimlich. Hoffmann sieht in Darmstadt sich mit allen drei verlorenen Frauen Olympia, Antonia und Giulietta konfrontiert. Dies treibt ihn in die Trunksucht.

Im Libretto von Offenbach wird Hoffmann nach seinen Liebesenttäuschungen zumindest von der „Muße geküsst“, indem er seine Lebensgeschichte in Erzählungen zu Papier bringt. In Darmstadt ist die Regie dagegen gnadenlos realistisch. Hoffmann verfällt dem Alkoholismus, und selbst die Muße wendet sich mit Grauen von ihm ab. Der Feind in Gestalt der vier Bösewichte hat ganz gewonnen. Die vier Bösewichte treibt ein Ziel an, die Rache an Hoffmann. Seine Art zu leben, den Moment zu genießen, ist dem unsichtbaren Gegner zutiefst zuwider. Aus Eifersucht auf Hoffmanns Lebensart widmet sich dieser Feind mit vier Gesichtern der Vernichtung der Existenz von Hoffmann. Im Textbuch ist es vorgegeben, dass diese vier Rollen von einem Sänger den Abend hindurch gerungen und gesungen werden. Der Sänger mag die Kleidung wechseln, doch bleibt er stets der gleichen Meinung, – und die ist Hoffmann zu vernichten.

Die Oper „Hoffmanns Erzählungen“ fragt also nach dem Gesicht des Bösen. Gibt es einen “Neidhammel”, der das Glück eines anderen bewusst vernichtet? Ein Sprichwort sagt: „Der Teufel steckt im Detail.“ Doch kann sich das Böse auch in Gestalt von Neid, Missgunst und eigenem Profitstreben verbergen. Hat Hoffmann selbst schuld, weil er sein Glück so offen zur Schau stellt? Mit Olympia der Puppe tanzt er in der Öffentlichkeit. Mit der Kurtisane Giulietta spaziert Hoffmann durch Venedig. Vorher hat er öffentlich der Liebe abgeschworen und die Frauen verflucht. Ziemlich inkonsequent oder nach dem Motto: „Was gebe ich auf mein Geschwätz von gestern?“ Kein Wunder, dass Giulietta nun Rache nimmt für die öffentliche Verschmähung aller Frauen. Der Hoffmann bezeichnet sich „als von der Liebe geheilt“, nach seiner Erfahrung mit Olympia und Antonia. Deshalb muss die Kurtisane Hoffmann brechen. Hatte Hoffmann angeblich der Frauenwelt abgeschworen und sie diabolisiert, so sieht Giulietta Hoffmann, als Heuchler.  Seine Prinzipien sind wie Wachs. Hoffmann ist ein Schwätzer.

Trägt Hoffmann eine Mitschuld am Tod von Antonia? Hoffmann bedrängt Antonia, die Liebe zur Kunst für ihn aufzugeben (ist er wirklich um ihr gesundheitliches Wohl bemüht?), stattdessen als sein Heimchen am Herd in einer Kammer mit ihm zu leben. Das erscheint Antonia nicht gerade reizvoll. So ist Antonia ein leichtes Ziel für die Versprechen des Dr. Miracle. Ist es so, dass einer immer mehr liebt und der andere dafür etwas aufgeben muss oder sich wie im Gefängnis fühlt? Dazu ein aktueller Song, der mir spontan dazu einfällt, von der Alin Coen Band “Einer will immer mehr“.

In der Puppe Olympia wohnt ein schöner Geist. In der Tat ist Olympia stumm, nur eine Arie mit einem Sprung im Text gönnt ihr Offenbach. Doch statt ihr Wesen zu erkennen fabuliert Hoffmann mit sich selbst, anstatt zuzuhören. Dass Hoffmann ein Narzisst ist, hatten wir schon an anderer Stelle im UniWehrsEL erwähnt. Die rosarote Brille seiner Liebe zu Olympia ist nicht so stark, dass nicht auch seine selbstherrliche Eitelkeit durch sie zum Vorschein kommt. Nur durch seine Eitelkeit erkennt Hoffmann das Wesen von Olympia nicht. Was für eine Frau will Hoffmann? Schön soll die Frau sein und stumm. Eben keine echte Frau, sondern eine ‚lebendige‘ Puppe. Diese Eitelkeit nützt sein Feind aus, indem er Hoffmanns Puppe zerstört.

So stellt sich am Ende der Oper die Frage: wer rächt hier wen? Sicherlich Giulietta die Ehre der Frauen, wegen Hoffmanns Schmährede. Antonia rächt sich auf ihre Weise. Antonia bleibt nicht brav in ihrer Kammer und schwört der Kunst ab, sondern geht auf die imaginäre, im Fieber erträumte Bühne, um Hoffmann zu beweisen: ich kann auch ohne dich! Deine Liebe und dein Anspruch erdrücken mich. Da wäre die Frage, ob der Tod besser wäre als lebenslang auf seine gefühlte Bestimmung (hier als Sängerin) zu verzichten. Olympia rächt sich, indem sie statt stumm und sittsam zu bleiben, so wie es Hoffmann sich vorstellt, lauthals zu reden bzw. zu singen beginnt, bis ihre Schaltkreise den Geist aufgegeben (ein Schrei der Verzweiflung?).

Schließlich kommt der Betrachter zu Stella der Opernsängerin. Um Stella zu erobern, hätte Hoffmann sich nur die drei Stunden der Oper “Don Giovanni” von Mozart in einer für Hoffmann eigens reservierten Loge anhören müssen, stattdessen geht Hoffmann an die Bar und betrinkt sich bis zur Besinnungslosigkeit mit Studenten. Folglich geht Stella mit dem Grafen davon. Es ist ihre Art der Rache an Hoffmann. (Übrigens gibt es von E.T.A. Hoffmann auch einen “Don Juan”.)

In Darmstadt kommt Stella, die stumme Rolle einer Opernsängerin, gar nicht vor. Dabei ist Stella ein wichtiger Bestandteil der Oper. In der Figur der Stella vereinen sich die besten Eigenschaften der drei Frauen Olympia, Antonia und Giulietta zur perfekten Frau. Olympia steht für die innere Schönheit der Frauen. Diese kann der Mann nur durch Einfühlungsvermögen und Zuhören erkennen. Antonia steht für den Konflikt der Frau zwischen Berufung und Pflicht. Giulietta steht für die körperliche Liebe und Hingabe der Frau in einer glücklichen Beziehung.

Leider wird Hoffmann Stella niemals kennen lernen, weil er lieber den Helden in der Kneipe gibt, als auf Stella zu warten. Dieses Bildnis der idealen Frau Stella, die alle wünschenswert Eigenschaften einer Partnerin in sich vereint, war der Regie wohl „zu geistig anspruchsvoll“. Deshalb wurde Stella als Figur sehr zum Bedauern des wissenden Theaterfreundes gestrichen. So bleibt ein Teil des Libretto von der Regie leider ungenutzt. Die Regie scheint sehr praktisch zu sein. Dieser geistigen Herausforderung der Figur Stella wird nicht nachgegangen.

Hoffmann ist in der Darmstädter Fassung dem Lebemann „Falstaff” von Verdi näher (wir verwiesen auf ihn im schon einmal im Kontext von Weltuntergang) oder dem Schutzheiligen der Darmstädter Kultur dem „Datterich“ – nachweislich einer der schlimmsten Trunkenbolde der Literatur und Held einer ganzen Stadt – denn wie sagt er so schön: „Bezahlen wenn man Geld hat ist keine Kunst, sondern die Kunst ist, ohne zu bezahlen den Freunden des Lebens nachzugehen“.

Ist Hoffmann also ein Lebenskünstler oder sein größter Feind? Ist Hoffmann ein Opfer des Bösen mit den vielen Gesichtern. Dies herauszufinden ist die Aufgabe des Zuschauers in “Hoffmanns Erzählungen“. Daher sollten die Zuschauer den Hoffmann feiern oder bedauern? Oder sollten Sie überlegen, wie aktuell diese Erzählungen immer noch sind?

Auf eine Antwort freut sich Ihr Kulturbotschafter des UniWehrsEL

Wie immer ganz herzlichen Dank an den Kulturbotschafter des UniWehrsEL. Danke auch an alle SchreiberInnen und KommentiererInnen des UniWehrsEL. Ich veröffentliche und verlinke auf Wunsch ihre unter Kontakt übermittelten Beiträge und korrigiere kleine “Rechtschreibfehlerchen”, (falls ich diese nicht übersehe, denn auch UniWehrsEL wird bekanntlich zuweilen “betriebsblind”). Mein Ansinnen ist es aber nicht, Sie bei irgendwelchen inhaltlichen Ungereimtheiten zu ertappen und zu überführen. Gewünscht und auch gerne veröffentlicht werden durchaus auch Ihre Kommentare, die sich auf bestimmte Beiträge beziehen und vielleicht einen anderen Standpunkt einnehmen, oder auf Inhalte hinweisen, die man inhaltlich diskutieren kann. Aber bitte und ausdrücklich weise ich auf die entsprechende Netiquette hin (das kommt ja bekanntlich von nett …).

Mit besten Grüßen Ihr UniWehrsEL