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Die übersteigerte Selbstliebe und Ichbezogenheit spielt im Stück „Der Theatermacher“ eine bedeutende Rolle. Grund genug, sich Gedanken zum Begriff und den Besonderheiten einige Gedanken zu machen. Anknüpfend auch an das (Nacht-)Erleben des E.T.A. Hoffmann und seinen „Sandmann“, den wir in der letzten Stunde begonnen haben zu besprechen, hat sich ein Seminarteilnehmender weiterführende Gedanken gemacht. Dazu sein Leserbrief, der weiteres Licht in „Nachtstücke“ und das Leben der narzisstischen Persönlichkeit, ihrer Wünsche und Träume bringt. Danke dafür!

Liebes UniWehrsEL,

in der griechischen Mythologie findet sich die Figur Narziss oder auch lateinisch Narcissus. Er kann die Liebe der anderen nicht erwidern und weist sie zurück, weil er nur Selbstliebe empfinden kann und sein eigenes Spiegelbild liebt.

Wie immer in der Natur ist ein gesundes Maß an Selbstliebe durchaus zuträglich, aber ein Übergewicht an narzisstischen Zügen und Gedankengängen schädlich. Wenn es zu einer malignen NPS führt, dann hat es neben mangelnder Empathie auch eine Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und ein gesteigertes Verlangen nach Anerkennung zur Folge. Da liefert “Der Theatermacher” ein gutes Beispiel. Ist das Stück doch durch eine Persönlichkeit gekennzeichnet, die sich durch übersteigertes Selbstwertgefühl, Prahlerei und Hochstapelei auszeichnet. Besonders unangenehm sind zudem die unersättlichen Ansprüche und unerreichbaren Erwartungen an sich und die Mitmenschen.

Das Leben eines Narzissten ist stark durch seine Phantasien geprägt. Dabei kommt es wenig auf reale Erinnerungen an, sondern die eigenen Ideen sind für ihn entscheidend und leitend.

Beim „Sandmann von  E. T. A. Hoffmann wird schnell klar, dass Nathanael narzisstisch veranlagt, vielleicht sogar an NPS erkrankt, ist.

Nathanael muss Physik studieren, fühlt sich aber als Dichter. Durch eine Erzählung eines alten Ammenmärchens traumatisiert, in dem der Sandmann den unartigen Menschenkindern die Augen aushackt und sie den Eulenkindern zum Fraß gibt, erlebt er die Schrecken der Kindheit erneut durch den Advokaten Coppelius, Seinen Vater und Coppelius beobachtet er heimlich nachts bei alchimistischen Experimenten, bei denen der Vater stirbt. Der verdrängte kindliche Schrecken wird wiederbelebt, als er als Student Besuch vom Wetterglashändler Coppola bekommt. Er erkennt in ihm den Wiedergänger des Coppelius. Auch die vernünftige und bodenständige Verlobte Clara kann den Glauben nicht verhindern, dass von nun an das Böse Macht über ihn erlangen wird.

Durch Coppolas Perspektiv erblickt Nathanael Olimpia, die schöne Tochter seines Professors Spalanzani, die ihn in seinen Bann zieht und ihn schließlich in den Wahnsinn treibt, als sich herausstellt, sie ist nur ein „lebloser Automat“.  Nathaniel landet im „Tollhaus“, wird durch Claras Pflege gesund und will von nun an ein bürgerliches gemeinsames Leben mit ihr führen. Leider verfällt er wieder in den Wahnsinn und bereitet in einem Anfall von Raserei seinem Leben ein Ende.

Dieser Stoff wird gerade in einer Neuinszenierung weitergesponnen im „Kulturhaus Frankfurt“.  Dabei werden Schauer- und Fantasyelemente aufgegriffen, die heutigen Ausformungen des “Bösen” interpretiert und die Frage nach dem Verhältnis zu heutigen “Automaten” und ihrer gedankenlosen Nutzung gestellt.

Psychologisch gedeutet hat das Kindheitstrauma einen starken Einfluss auf Nathanaels Lebenslauf.  Angst bestimmt sein künftiges Leben. Mit dieser Problematik hat sich auch die Sprach- und Literaturwissenschaft auseinandergesetzt. So kann man bei der Beschreibung zu Isabell Rieths „Traum und Trauma. Erklärungen für Nathanaels Realitätsverzerrung in E.T.A. Hoffmanns ‘Der Sandmann’nachlesen:

„Die Nacht gilt im literarischen sowie künstlerischen und musikalischen Vorstellungsbereich als ein einschlägiger Topos, der Unheimlichkeit, Unklarheit, oftmals auch Unbehagen in die Wahrnehmung des Rezipienten schleust. Bekanntes wird durch den Filter der Nacht Unbekannt, Heimliches wird – auch nach Freuds Vorstellung – unheimlich, jede vormals bekannte Proportion wird im nächtlichen Licht verzerrt und die menschliche Wahrnehmung leistet einen Spagat zwischen Überempfindlichkeit und Unzuverlässigkeit. Dieser Zustand seelischer Entrückung ist Zentrum der sogenannten Nachtstücke, welche in der bildenden Kunst (Rembrandt, C. D. Friedrich), der Musik (Schumann, Bach, Chopin), sowie der Literatur (W. Wordsworth, E.T.A. Hoffmann) Einzug gefunden haben. Wie bei den musikalischen Nachtstücken bleibt auch bei Hoffmanns Der Sandmann die Wahrheit eine Frage des Perspektivs, des Blickwinkels, des Lichteinfalls auf das dargelegte Szenario. Es herrscht eine Ambivalenz aus erkennbar und unerkennbar, Licht und Schatten, Fokus und Unklarheit.“

Wie sehr eine erschreckende Gestalt aus der Kindheit sich auf das ganze Leben auswirken kann, das haben wir bereits bei einer anderen sehr berühmten Person kennen gelernt: Walter Benjamin.

Psychologisch gedeutet ist Nathanael zur Liebe zu einer realen, rational denkenden Frau wie Clara nicht mehr in der Lage. Er ist sich seiner eigenen geistigen Verwirrung nicht bewusst, weil sein ausgeprägter Narzissmus dies verhindert. Stattdessen versucht er durch den „leblosen Automat“ Olimpia seine Idealvorstellungen von seinen eigenen Charaktereigenschaften zu projizieren. Die Augen und die Blicke spielen dabei eine große Rolle. Durch seinen Blick belebt er die zunächst leblos und starr wirkende Olimpia und lässt sie zu einem Spiegelbild seines Selbst werden.

Die Harmonie zwischen ihm und der Holzpuppe ist demnach das Resultat einer „autistischen Projektion” oder die nahezu vollständige Abgrenzung von der Außenwelt und Konzentration auf die innere Realität und die gleichzeitige Projektion des eigenen Inneren nach außen. Dieser Ausschluss der äußeren Realität und die Projektion nach Außen werden von Nathanael selbst als positiv erlebt, er fühlt sich mit der Puppe Olimpia tief verbunden.

Vater Coppola zerstört schließlich die Puppe Olimpia. Das kann auf Grund seiner narzisstische Liebe gleichzeitig als eine Selbstzerstörung Nathanaels angesehen werden.

Mit herzlichem Dank für das spannende Seminar und freundlichen Grüßen!

Quelle :
Gefangen im eigenen Ich: Ein psychoanalytischer Vergleich von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann und Der goldne Topf
Katharina Borgmann, 2009

Sandmann-Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay mit Dank!