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Im Jahr 1808 erschien in “Des Knaben Wunderhorn”  die Geschichte vom „bucklicht Männlein”.  Die heute bekannte Melodie wurde nachträglich 1810 von Johan Nikolaus Böhl (1770-1836) zugewiesen (nach dem 1776 in Wien im “Katholischen Gesangbuch” erschienenen Fronleichnamslied “Kommt zum großen Abendmahl”).

Das „bucklicht Männlein“ hatte für Walter Benjamin in der „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ eine große Bedeutung. Wer von diesem buckligen Gesellen angesehen wurde, der gab nicht Acht und ihm zerbrach etwas oder er fiel hin. „Ungeschickt lässt grüßen“, kommentierte Benjamins Mutter diese Unachtsamkeit.

Das „bucklicht Männlein“ weckt die Vergangenheit, gehört zu einer Zeit, die unwiderruflich verloren scheint, erinnert an Vergangenes, lässt innere Bilder an die Heimat, für Benjamin die „Berliner Kindheit“, vor dem geistigen Auge entstehen. Benjamin schreibt im Exil und für ihn verbindet sich damit auch eine sanfte Melancholie.

Spontan hat der Begriff der Heimat bereits eine Seminarteilnehmerin im Seminar „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …“ zu einem weiterführenden Gedicht angeregt. Nochmals herzlichen Dank dafür liebe Anne Winckler!

Jetzt erhalte ich einen Beitrag von Frau Pohlen, die ihre ganz eigenen Gedanken dazu entwickelt hat. Zudem gibt es noch eine Buchempfehlung und einen lieben Abschiedsbrief zum Semesterausklang im Wintersemester 22_23 von ihr.

Ich kann ausgerechnet heute nicht dabei sein. Deshalb auf diesem Weg ganz herzlichen Dank für dieses wunderbare Seminar mit den reichen Denkanregungen. Joke Hermsen wird mich noch eine Weile begleiten.

Zu Walter Benjamin noch eine Buchempfehlung: Marica Bodrozic “Die Arbeit der Vögel. Seelenstenogramme. Luchterhand” Im Geiste Walter Benjamins geht M. B. seine Denkwege nach, auch den Weg nach Port Bou. Im Buch verwebt sie die Schicksale anderer Intellektueller, die der Gewalt des 20. Jhdts. ausgesetzt waren, miteinander. Lisa Fittko, der Dichter Ossip Mandelstam, Danilo Kis, etc. Sie alle Menschen, die “beseelt” waren in schlimmen Zeiten. Es entsteht ein reicher Gedankenstrom, der in die inneren Landschaften der Seele eintaucht. Eine leuchtende Poesie, die mich tief ergreift.


Bis zum Sommer mit herzlichen Grüßen, Maria Pohlen.”

Die alte Königin (3) und das bucklichte Männlein

Die alte Königin rückt ihr Bänklein zurecht. Sie will beten. Das bucklichte Männlein hat sie inständig darum gebeten. Sie hat es noch nie gesehen. Dennoch spürt sie, daß es oft da ist. Lebt es im Sousterrain, halb draußen, halb drinnen? Sie kennt es kaum. Vielleicht hilft das Beten ja. Sie zweifelt ein bißchen. Aber eine Litanei wäre doch lang genug, um das bucklichte Männlein kennenzulernen.
Also, betet sie.

Will ich in die Küche geh’n,
will espresso kochen,
steht das bucklicht Männlein da,
hat die Tass’ zerbrochen.

Will ich an mein’ Schreibtisch geh’n,
will ein Textlein tippen,
steht das bucklicht Männlein da,
tut mir Fehler schnippen.

Will ich ein fein’s Kleid anzieh’n,
will das Knöpflein schließen,
steht das bucklicht Männlein da,
hat’s mir abgerissen.

Will ich in ein meeting geh’n,
will ein Wörtlein wagen,
steht das bucklicht Männlein da,
höhnt: Nichts Falsches sagen.

Will frisch mein Bett heut’ machen,
will die Finger brauchen,
steht das bucklicht Männlein da,
tut mir ein’ verstauchen.

Will ich fort zum Einkauf geh’n,
will voll die Taschen stecken,
steht das bucklicht Männlein da,
tut bös’ mit roten Zahlen necken.

Will ich geh’n ans Telefon,
will die Nummer wählen,
steht das bucklicht Männlein da,
tut mich mit Vergessen quälen.

Das hätte sie nicht gedacht. So viel Mißgeschicke waren zusammengekommen. Und es gab noch vielmehr und größere. Warum nur? Die alte Königin tut doch alles dafür, daß sie Erfolg hat. Sie ist geradezu in den Erfolg verliebt. Manchmal beschleicht sie eine diffuse Angst, der Erfolg könnte verloren gehen. Wer möchte schon, daß das Verliebtsein zu Ende geht?

Etwas stimmt nicht mehr. Und der Verdacht drängt sich auf, daß es mit dem buckligen Männlein zu tun haben könnte. Weshalb nur ist es im Keller festgesetzt? Weil es dem Erfolg im Wege steht? Mit seinem Buckel. Mit allem was fleckig, dreckig, ungerade, ungeschickt, ungehobelt, wild und nicht angepasst ist. Was kann das Männlein dafür. Es ist so auf die Welt gekommen. Das Männlein hat eine geheime Losung. “Wenn zu perfekt, lieber Gott böse”. Die lauschte es einem Künstler ab. Aber seit einiger Zeit wurden die Künstler nur noch für events gebucht. Das war nichts für das Männlein.
Und nun soll es sein buckliges Leben im Keller fristen? Auch das bucklichte Männlein kennt gute Gründe zu beten. Es möchte erlöst sein. Es möchte dazugehören.

Die alte Königin bespricht sich mit ihrer Sprecherin. Vielen Menschen im Lande ginge es so: Sie seien unglücklich, trotz der Erfolge, trotz der guten Geschäfte, selbst an Urlaubstagen jagten sie dem perfekten Glück nach. Sie können in ihrem Unglück einfach nicht anhalten. Sie haben sich verloren.

Bucklichts Männlein, ach ich bitt
vergib, ich sah dich nicht.
Komm ans Licht, lass dich umarmen.
Heut’ und morgen. Amen.

Die Königin stützt die Hände in den Kopf. Eine Melancholie überkommt sie. Oder träumt sie gar, am hellichten Tag?

Die Menschen sollten wieder einmal vor sich hinsummen, etwas falsch, etwas schräg, Hauptsache, sie atmeten immer freier. Einen Tag nur sollten sie die Telefone auf stumm stellen von morgens bis in die Nacht, ab und zu könnten sie Tische und Bänke auf Bürgersteige, Balkons und Plätze stellen und gutes Brot, Wasser, Wein und Butter miteinander teilen. Sie würden sich zuhören, wenn sie nach und nach vom buckligen Männlein in ihrem Leben erzählten. Und bevor sie einschliefen, schrieben sie noch ein paar Fragen und Gedanken mit der Hand in einfache Hefte. Wie würden sie sich wundern und staunen über das freie Gefühl, nichts Buckliges, Fleckiges, Ungerades, Ungeschicktes, Ungehobeltes, Wildes, Unangepasstes nicht länger im Keller festhalten zu müssen. Würden sie herausfinden, ob es nicht auch ein anderes Glück gäbe, als das, was sie bislang dafür hielten? Und wenn sie scheiterten? So die Bedenkenträger, zaghaft wie immer.

Sie können mich ja fragen, ich würde versuchen, ihnen zu helfen, es ist ein langer Weg, nuschelt das bucklichte Männlein und stellt sich vor, wie gut es wäre, unter lauter echten Menschen zu sein. Es streicht sich gelassen den Buckel.

Januar 2023 Maria Pohlen. soviel zum “Bucklichten Männlein”. Mit lieben Grüßen

Danke dafür, liebe Frau Pohlen und auch an Alle, die mir wieder so zahlreiche Briefe, Kommentare und wunderbare Beiträge geschickt haben. Schön, dass wir auch weiterhin in Kontakt bleiben!