You are currently viewing Leserbrief zu “Melancholie” – was fällt Ihnen dazu ein?

Auf meine Frage nach dem, was Ihnen denn zum Thema der Melancholie einfalle, bekam ich diesen interessanten Leserbrief. Ganz herzlichen Dank liebe Frau Pohlen, auch dafür, dass Sie uns an diesen melancholischen und gleichzeitig tröstlichen Gedanken teilhaben lassen!

Liebe Frau Dr. Wehrs,

Ich freue mich auf das WS mit Ihrem Seminar “Melancholie”. Ihre Bitte um Rückmeldung möchte ich mit einem Text beantworten, der im Frühjahr geschrieben wurde.

Da ich selbst Zeichnerin bin, kenne ich den Holzschnitt von Dürer gut.

Zugegeben, wenn die “Dame” mich besucht, bin ich nicht unbedingt begeistert. Aus der künstlerischen Praxis heraus habe ich aber die Erfahrung gemacht, dass sie mich nicht leer zurücklässt, wenn ich ihr Gastrecht und Zeit einräume, ihr zuhöre, die Zweifel, das Nichtwissen, etc. mir und ihr eingestehe. Manchmal bleibt ein winziger Flügel zurück, der zum nächsten Schritt im Dunkel ermutigt und noch einen, und noch einen.

Ihnen helle Sommertage, freudvolle Vorbereitung und Grüße,
Maria Pohlen

Die Farbe Grau (1)

Die Erde in meinem Garten ist grau. Die schweren lehmgrauen Klumpen in meinen Händen, manche noch vereist, zeigen mir, wie sie den tagelangen Januar- und Februarregen schlucken und ertragen mußten. Meine Vorstellung von Frühling ist eine andere, als die, wie die Erde sich mir zeigt. Müde. Grau. Erschöpft.

Halbverweste Blätter vom Weißdorn breiten sich auf dem Boden aus. Einmal waren sie grün lackiert. Die zahlreichen roten Beeren, einmal Signal für die Vögel, bilden einen Noppenteppich aus schwarzgrauen Kugeln wie Kot unter der Baumkrone. Der Teppich unter der Baumkrone – ein Spott und Hohn auf meine Vorstellung vom ewig schönen Leben, stattdessen ein von Motten und Gewürm zerfressenes Winterfuchsgrau.

Regenloser März. O Himmel, reiß die graue Erde auf.

Was ist das für ein trostloser Schlaf, den die Erde hält? Der eines schweren Alptraums? Der einer Narkotisierten? Der eines Lazarus, den alle aufgegeben haben? Der grauenvolle Schlaf eines Gekreuzigten, zum Tode verurteilt wegen Unruhestiftung?

Graue Traurigkeit, graue Tage, grauer Tod aus Langeweile. Der graue Filz, das künstlerische Material des Joseph Beuys. Statt zu einer Grablege wird es zur heilenden Verpackung für den abgestürzten Stuka-Flieger. So die Legende. Eine graue steinerne Festung das andere Grab. Hintergund für das Funkeln eines Tropfens Tau am Morgen danach, für das Unwahrscheinliche, für zärtliches Sprechen darüber. Der kühle Windhauch im Morgengrauen. Der erste Laut nach klangloser Nacht nimmt dem Grauen den Stachel.

Als Schulkind beschäftigte ich mich gern mit meinem Wasserfarbkasten. Das Mischen der Farben hatte etwas von einem Geheimnis an sich. Jedes Grau war anders, nicht wiederholbar. Irgendwann war auf dem Papier nur noch Grau zu sehen. Ich hatte den Eindruck, mal sei es warm, mal kalt. Grau, dem ich ansah, woraus es bestand. Ich liebte alle Farben, konnte mich für keine entscheiden. Das war es, was das Grau zustande brachte. Sie, die Farbigkeiten, überlagerten sich, glitten in die Indifferenz. Nur mein Gedächtnis ahnte die reine Farbe im Grau. Dieses Ahnen war so deutlich zu spüren, daß mir das Grau gar nicht so schien, als sei es grau. Waren doch alle Farben enthalten in dieser Eintönigkeit.

Graue Zeiten. Alles verschmilzt. Montag ist wie Dienstag wie Mittwoch wie Sonntag. Mein Tun folgt keinem Ziel als nur, daß heute wie gestern und morgen sei. Meine Kräfte wissen nichts mehr von der Freude, von der Spannung, von der Wut, vom Prickeln, von den Unterschieden und Wechseln der Tage. Im traumgrauen Schlamm bleibe ich stecken. O Himmel, reiß doch endlich auf.

Ich suche den Himmel ab, diese ausgespannte Decke über mir, so weit ich sehe. Ich spähe jeden Tag aus, übe meine Augen im Warten auf die dünnste Spalte aus Licht, nach Veränderung von Formen, nach feinen Abstufungen von Grau zu Rosa zu Blau zu Weiß, von leuchtend zu drohend zu heiter zu schwerfällig, von vergiftetem Türkis zu milchigem Graugelb zu Ichweißnichtwas.

Am grauen Übergangsmantel ein kleiner Fächer aus vielfarbiger Seide. Er wächst aus dem schattigen Revers heraus, ein Siegesfähnchen (-schälchen) nahe am Herzen, wie die heiterste Entscheidung, wie eine flüchtige Idee von Auferstehung.

März 2022 Maria Pohlen