Du betrachtest gerade “Die Entführung aus dem Serail” – Lehren aus der Märchenwelt

Stellen Sie sich vor, Sie wären im Jahre 1789 in Berlin. Im Opernhaus beginnt gerade das Singspiel “Die Entführung aus dem Serail'”. Ein kleiner schlecht gekleideter Mann mit schmutzigen Schuhen betritt den Zuschauerraum. Der Schriftsteller Ludwig Tieck, den wir bereits beim Beitrag über das Romantikmuseum in Frankfurt und beim Flanieren durch den Märchenwald mit seinen Erzählungen „Der blonde Egbert“, „Die Elfen“ (Anna Stemmann “Tannengrund und Wald) und „Der gestiefelte Kater“ kennen gelernt haben, beschreibt diesen Moment:  “Rasch, beweglich und blöden Auges, eine unansehnliche Figur im grauen Überrock”. Schließlich drängt sich dieser sonderbare Mensch sogar bis zum Orchester vor und ruft: “Verflucht, wollt ihr D greifen!” Zum Schluss ertönt ohrenbetäubender Beifall, denn Berlin hat Mozart für sich entdeckt. Und nicht nur Berlin, sondern auch „br-klassik“ und last but not least, der Kulturbotschafter des UniWehrsEL lieben seine Musik und die originelle Handlung, in der es letztlich auch darum geht, trotz erlittener Kränkung verzeihend und großmütig zu sein.

Liebes UniWehrsEL,

bin auf dem Weg nach Frankfurt zu Mozarts Entführung aus dem Serail. Die Inszenierung ist ein Klassiker aus der Spielzeit 2003/04. Regie führt Christoph Loy. Es ist eine Märchenoper. Der Inhalt hat einen ernsten Hintergrund, geht es doch um die Entführung bzw. Verschleppung von europäischen Frauen in die Türkei. Belmondo macht sich auf die Suche nach seiner Geliebten Konstanze. Sie wurde zusammen mit ihrer Freundin in einen Serail verschleppt, um dort dem Sultan als Gespielin zu dienen. Solche Entführungen waren an der Tagesordnung. Für die entführten Frauen bedeutet dieser Handel mit ihrem Leben großes Leid.

Dies ist aber nicht Thema der Oper. Die Oper hat komödienhafte Elemente. Die Türkei zu der Zeit wird nicht in der Realität dargestellt, sondern in Form einer Märchenwelt. Mozart hatte keinen Bezug zur Türkei. Er hat die Türkei weder besucht noch hatte er von dem Land Kenntnis. Die Türkei bzw. der Orient kam damals in Mode, aufgrund von Reiseberichten oder Gemälden von Eugène Delacroix (digitale Sammlung im Frankfurter Städel), der den Orient tatsächlich bereist hat. Seine Zeichnungen, Bilder wurden in Galerien gezeigt. So setzte Mozart mit der Entführung aus dem Serail auf ein Modethema; den Orient und seine Geheimnisse. “Serail” ist übrigens immer wieder in verschiedenen Kontexten ein Modethema, so auch in Bezug auf seine “kulinarischen Köstlichkeiten” wie man diese bei Dieter Sauter nacherleben kann.

Stattdessen geht es in der Entführung aus dem Serail um die Liebesbeziehung zwischen (europäischen) Männern und Frauen. Selbst der vermeintliche Sultan entpuppt sich als edler Europäer. Lediglich sein Diener Osmin trägt den wilden Orient auf der Zunge – er flucht herzhaft und ist stets mit vollem Körpereinsatz dabei. Seine Gefühle für Blonde sind echt. Da kommt Blonde ganz schön ins Grübeln, wenn sie wieder auf Pedrillio ihren europäischen Liebhaber trifft. Petrillio hat ein anderes, reserviertes Gemüt (von der Macht des Gemüts berichtet ja bereits Kant). Sich wieder an Pedrillio, der es nicht so mit den zur Schau gestellten Gefühlen hat, zu gewöhnen, ist nicht so einfach. Richtig Mitgefühl für Osmin empfindet der Zuschauer, wenn Pedrillio und Belcore den Türken betrunken machen. Da fällt die Figur aus der Rolle und offenbart ihr wahres Gesicht. Der Angeber und Maulheld, der einfache Mann hat sein Herz an Blonde verloren.

Mehr die Sitte als der Verstand gebieten Blonde und Konstanze die Flucht aus dem Serail. Konstanze ist in einem ähnlichen Konflikt. Sie hält den Bassa Selim, einen ausgewanderten Europäer mit edler Gesinnung, für einen hochrespektablen Liebhaber. Dennoch hat Konstanze ihren Liebhaber Belmonte nicht vergessen. Ist er doch der Grund für die Oper. Nur durch seine Hartnäckigkeit ist die Flucht aus dem Serail überhaupt denkbar. Der Plan mutet jedoch wie ein Kinderspiel an. Den Diener betrunken machen, den Schlüssel stehlen und mit den Frauen abhauen. Sehr einfach der Plan. So muss dieser logischerweise entdeckt und verhindert werden. Nun könnte die Komödie einen ernsten Schwenk nehmen. Sinnt doch Osmin auf Rache dafür, dass er betrunken gemacht wurde.

Doch die Figur des Bassa erweist sich als so edel, dass er den Fluchtversuch nicht bestraft, sondern belohnt. Wen man durch Wohltun nicht gewinnen kann, den muss man sich vom Halse schaffen, lautet die Antwort des Bassa auf die Flucht. Vielleicht ist er auch einfach nur großmütig. Die Figur des Bassa erinnert an den Herrschertyp wie er auch in der Oper Una cosa rara beschrieben worden ist. Dieser Typ hat immer die Gesellschaft als Ganzes im Blick.

Statt die europäischen Entführer zu töten verhält er sich weise und bekämpft seine eigenen Rachegedanken gegenüber Belmonte und behält dafür ein gutes Gewissen. Belmontes Vater hatte den Bassa aus Europa vertrieben. Warum und was der Konflikt zwischen dem Bassa und Belmontes Vater war, wird nicht erklärt. Nur dass der Bassa tief verletzt war und Rachegefühle hatte wird in einer Szene klar. Die Botschaft lautet, der Herrscher kann seine Gefühle zügeln bzw. bekämpfen. Der Diener Osmin dagegen folgt seinen Emotionen in der Liebe aber auch in der Rache. Er kann sich nicht Güte ohne Eigennutz vorstellen. Diese Eigenschaft hat nur der edle Herrscher Bassa.

Deshalb endet die Oper auch mit einem Lobgesang auf den Bassa. Ob die wiedergefunden europäischen Paare miteinander glücklich werden, bleibt offen.

Christoph Loy ist kein Freund bunter Kostüme oder eines opulenten Bühnenbilds. Stattdessen untersucht Loy die Charaktere mit Gesten und Mimik. Das Bühnenbild soll den Zuschauer nicht ablenken von den Gefühlen und Gedanken der Figuren. Zwar wird eine Komödie gespielt, jedoch bleibt der Grundton ernst bei Loys Inszenierung. Das Märchen findet bei Loy seinen Raum in der Erzählung, nicht in Gestalt des Bühnenbilds.

Gedanklich vergleicht Loy Mozarts Entführung aus dem Serail mit Mozarts Oper „Cosi fan tutte“, die wir im UniWehrsEL unter Kulturkosmos beschrieben. Bei der Entführung gibt es ein Happyend. Die Konflikte der zwei Paare scheinen ausgeräumt zu sein, oder sie treten auf der langen Rückfahrt ohne Zuschauer zu Tage. Anders sieht Loy Mozarts Cosi fan tutte. Dort hat die Wette der Liebhaber das Vertrauen in die Beziehung verändert und aus Loys Sicht zerrüttet. Bei der Entführung ist die Sehnsucht nach (oder die Solidarität mit) dem Liebhaber größer.

Die Frauen hängen einem ‚Idealbild‘ ihrer Liebhaber nach und freuen sich auf deren Rückkehr. Die Frauen werden zwar durch Osmin und den Bassa in Versuchung gebracht, erliegen jedoch dieser Versuchung nicht. Osmin und Bassa sind nur ‚Gedankenspiel‘ oder Träume des fremden Exotischen. Das ist der Unterschied zu „Cosi fan tutte“. Dort wird nicht nur gedanklich fremdgegangen, sondern in der Praxis ausgetestet. Die Liebe bleibt bei der Entführung eine Phantasie. In Cosi fan tutte wird die Liebe und Leidenschaft realisiert. Cosi fan tutte ist mutiger, folgt der Versuchung. Die Entführung ins Serail ist ein Märchen und das folgt einem traditionellem Bild – jeder bleibt da, wo er gesellschaftlich hingehört – wie wir es ja bereits bei der Besprechung zu “Jeeps” festgestellt haben. In der Entführung aus dem Serail geht es um Gefühlswelten von Frauen und Männer, um Liebe, Lust und andere Leidenschaften, wie der Zuschauer selbst damit umgehen würde, das ist eine ganz andere Geschichte.

Übrigens: Die Entführung aus dem Serail habe ich schon als Kind auf CD gehört. Live habe ich die Oper zum ersten Mal an der Oper Zürich gesehen. Es war eine Inszenierung von Jean Pierre Ponnelle. Er hat viele Opernspielfilme gedreht, z.B. Rigoletto mit Luciano Pavarotti. Es sind sehr liebevolle Filme. Ist dir Ponnelle ein Begriff? anbei die Homepage von Ponnelle als Maler anknüpfend an meine Erzählung über die Entführung aus dem Serail in Zürich. Wie gefallen Ihnen die Werke?