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Automaten spielen beim Schriftsteller E.T.A. Hoffmann eine große Rolle. E.T.A. Hoffmann beschreibt im „Sandmann“ einen Protagonisten, der sich in eine Puppe verliebt und mit deren Zerstörung auch eine Auflösung seines Selbst erlebt. Das leitet über zu Themen wie „Puppen als Seelenverwandte“ und “Puppen als gesellschaftliche Vorbilder”. Wie immer danke an die zahlreichen Schreibenden unseres UniWehrsEL und ganz besonders unserem Kulturbotschafter.

Liebes UniWehrsEL,

Eine Puppe ist eine Nachbildung eines Menschen. Sie soll besonders klar einen Menschen im Miniformat abbilden. Doch was passiert, wenn Puppen zum Leben erweckt werden? Dann haben wir die Puppenfee. 

Vor kurzem habe ich mir Hoffmanns Erzählungen mit der Puppe Olympia am Staatstheater Darmstadt angesehen. Gestern bin ich auf das Ballett die Puppenfee von Joseph Bayer (1852-1913) gestoßen. Das Stück wurde von der Fürstin Metternich bestellt. Die Fürstin hatte eine Aufführung von E.T.A. Hoffmanns Sandmann in Paris angesehen und deshalb sich ein Stück gewünscht, dass sich am Sandmann orientiert. Es treten auf: die Puppenfee, Österreicherin in Tracht, eine Chinesin, Spanierin, Japanerin, Harlekin, Ladenbesitzer und Kunden. Hast du das Ballett schon einmal auf der Bühne gesehen? Anbei ein Link damit du in die Ballettmusik hineinhören kannst.

Beim klassischen Ballett wird übrigens auch immer geschwiegen. Kein Wort wird gesprochen. Stattdessen wird “getanzt” und die Emotionen mit Körpersprache dargestellt.

Dazu meine weiterführenden Gedanken. Welche Rollenbilder vermitteln sich über Puppenfee, Barbie und H-Men?

Puppen werden z.B. zur Erziehung von Mädchen eingesetzt. Ich denke bei einer Puppe nicht zuerst an die Puppenfee, sondern an Barbie. Sie stellt ein bestimmtes Frauenideal dar. Sie lebt mit ihrem festen Freund Ken in einem Haus. Sie bestimmt über das Puppenzuhause. Barbie ist eine modebewusste Frau. Ich finde es interessant, wie es dem Hersteller gelungen ist, in 2023 die Barbie in einem erfolgreichen Kinofilm als gegenwärtig neu zu interpretieren. Der Hersteller hat für Jungs die Puppe H-Men im Programm. Der erlebt zur Zeit als Zeichentrickserie auf Netflix ein Comeback. Der muskelbepackte Held, der die Weltretten muss, hatte in der Ursprungsserie der 1980/1990er noch etwas Selbstironisches. In der Neuauflage bei Netflix steht der Heldenmythos im Vordergrund. H-Men nimmt sich und seine Aufgabe nun ernst. Das scheint mir ein Unterschied zum Ursprung zu sein. Auch wird auf die Belehrung, den Appell für eine gute Sache wie z.B. für Umweltschutz, Rassismus etc. am Ende der Folge in der Neuauflage verzichtet.

Was schließt der kritische Betrachter daraus? Sowohl Barbie als auch H-Men stellen klassische Rollenbilder von Mann und Frau über Puppen dar. Dass kann problematisch sein, weil es für Erwachsene später unereichbare Lebensziele setzt. Nicht jede Frau kann im Haus mit Garten, Auto und festem Freund glücklich vor sich hinleben. Nicht jeder Mann ist ein Held der täglich die Welt rettet. Vielleicht wollen die Frauen auch gar nicht von H-Men gerettet werden?

Auch die Puppenfee ist problematisch; vermittelt sie den Mädchen ein falsches Frauenselbstbild? Nämlich, das Bild einer schlanken immer jungen Frau mit Zauberkräften. Der Puppenfee wird aufgrund ihrer Schönheit am Ende des Balletts gehuldigt. Unterschwellig vermittelt sie jungen Mädchen also den Eindruck, du brauchst nur schön sein, dann bist du der Boss. Was ist wenn du dieses Ideal der Puppenfee nicht erreichst? Musst du dann ständig an dir und deinem Aussehen arbeiten um dem Ideal der Puppenfee näher zu kommen? Ist Barbie die Puppenfee des 20.ten Jahrhunderts und müssen wir dieses Frauenbild wirklich ins 21 Jahrhunderts unhinterfragt übernehmen? Gleiches gilt selbstverständlich auch für den Held H-Men.

Übrigens noch eine kleine Anmerkung: als ich meinen Beitrag schreiben wollte, gab ich in Google „Frau und Puppe“ ein. Dabei stieß ich auf aufblasbare Puppen für Männer. Sofort dachte ich an einen Bericht in RTL über Japan. Dort gibt es Puppenbordelle. Für uns klingt das kurios, aber da geht es auch um das Thema Einsamkeit. Die Männer treffen sich in diesen Puppenhäusern nicht unbedingt nur wegen Sex, sondern um mit den Puppen zu sprechen, zu spielen.

In den 1920ern gab es den Schlager „Amalie geht mit ‘nem Gummikavalier ins Bad“. Textzeile: „Amalie hat lang nach ‘nem Mann sich gesehnt – ist also einsam – deshalb hat sie sich einen aus Gummi gedehnt. Und sie bläßt ihn auf geschwinde“. Das Lied ist von den Comedian Harmonists gesungen worden, heute von Max Raabe intoniert, klar ist es ironisch.

In einem Fall des Juristen Ferdinand von Schirach in den Buch „Schuld“ geht es um einen Mann, der glücklich mit seiner Gummipuppe lebt. Sein Nachbar bekommt die Neigung mit und schlitzt die Puppe auf. Es kommt dem Mann wie ein Mord an einem Lebenspartner vor und er tut dem Nachbarn seinerseits Gewalt an. Nun muss der Richter über diesen Puppenmörder juristisch urteilen.

Mit ganz herzlichen Grüßen an die UniWehrsEL-Leser

Ihr Kulturbotschafter

Einen ganz herzlichen Dank für Ihre Anregungen, die mich zu weiteren Recherchen einluden, was ich auch mit großem Vergnügen an unsere Schreibenden und Lesenden hier weitergeben möchte, mit der Bitte um Ihren Kommentar!

Puppen spielen nicht nur im Leben von Kunstschaffenden eine Rolle. Puppenerfahrungen regen eventuell zu einem späteren Schaffensprozess an, können auch bei möglichen eigenen biographischen Zusammenhängen „Seelenverwandte“ oder auch als lebendig gewordenes „Übergangsobjekt“ wesentlich werden, wenn es um Fragen zwischen Natalität oder Anfangserleben und Mortalität oder Endlichkeit geht. Puppenaffine Menschen eröffnen sich eine eigene Welt durch den Besitz ihrer Lieblingspuppe, die Kleidung, die Bühne, die Rolle, der Raum, dem die Puppe zugeordnet wird. Literarisch, zeichnerisch, filmisch, theatral oder materiell-technisch aufbereitet gehören „Puppenwesen“ wie etwa Pinocchio, Sandmännchen, Barbie, Augsburger Puppenkiste oder Sesamstraße zu unserem Alltag. Die Zugänge dieser anthropomorphen Wesen sind so vielfältig wie ihre Ausformungen. Sie  können destruktiv, abgründig, konstruktiv, integrierend, heilend, rettend sein.

Zu Puppenerfahrungen rief 2020 auch die ETA Hoffmann Staatsbibliothek Berlin auf und fragte nach der Bedeutung der eigenen Puppen und denen im künstlerischen Werk. Angeregt waren Insa Fooken und Jana Mikota wohl auch durch eine Zeitschrift, die ebenfalls die Frage nach der Bedutung von Puppen stellt. Unter dem Stichwort „denkste: Puppe – Puppen als Seelenverwandte – biographische Spuren von Puppen in Kunst, Literatur, Werk und Darstellung werden in einer multidisziplinären “Zeitschrift für mensch-puppen-diskurse” weiterführende Überlegungen angestellt.

So gilt eine Frage „Was macht die Puppe im Museum? Puppen ausstellen im Spannungsfeld von historischen und biographiebezogenen Bedeutungsgeschichten“ (Eggert/Lehner, 2021). Es geht dabei um die Unternehmerin und Sammlerin Julia Lehner, die im Interview zu den Herausforderungen eines Ausstellungkonzepts bzw. um die Entwicklung und Gründung eines Museums für Puppen und Spielsachen Stellung nimmt, Gleichzeitig auch über „biographiebezogene Erfahrungen als Sammlerin“ sowie über einer entsprechende puppenspezifische Ausstellungspraxis verfügt.

Spannend ist ihre Idee, einen Raum einzurichten indem Besucher und Miniaturisten eine Puppenhausstadt selbst bauen und einrichten könnnen unter dem Thema: „Der Mörder ist unter uns“. Ein Mordfall wird nachgestellt. Das „Mörderspiel“ könnte einen Versuch darstellen, das Puppenhausmuseum unter dem Stichwort der „gemeinsamen Begegnung“ zu betrachten, gleichzeitig ist es ein Weg, vom reinen Ausstellen der Objekte zur aktiven Freizeitgestaltung mit Freunden.

Literarisch betrachtet, so kann man unter anderem lesen, spielen „Puppen in Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meister-Komplex und Thomas Manns Buddenbrooks im Spannungsverhältnis zwischen Bürger- und Künstlertum“ (Willbold, 2021) eine Rolle. So taucht in Goethes Ur-Meister der Protagonist Wilhelm auf, der aus bürgerlichen Verhältnissen stammt. Er findet einen Weg aus der eingeschränkten bürgerlichen Existenz seiner Herkunftsfamilie durch das Spiel mit dem Puppentheater als Initialerfahrung für sein weiteres Leben. „Angetrieben von der initialen Puppentheatererfahrung und dem Gefühl, welches diese in ihm auslöst, entsagt er bewusst seiner merkantil ausgerichteten Herkunft und entschließt sich – vorerst – für ein Leben „auf dem Theater“ (Goethe, Lehrjahre 1992, 659, zitiert nach Willbold „Zur Funktion der Puppe innerhalb der Diegese – Die Kunst als Lösung bei Kleist, Goethe und Mann“, S. 43)

Wir würden uns über weitere Anregungen (eigener) biographischer oder künstlerischer Art im Umgang mit ihren “anthropomorphen Gefährten” sehr freuen!

Danke für das Bild von Rudy and Peter Skitterians auf Pixabay!

  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:29. Januar 2024
  • Lesedauer:10 min Lesezeit