You are currently viewing Wo die Worte fehlen – „Ruth“, ein Kommentar

In unserem Beitrag „Mitteilungen – wenn die Worte fehlen“ ging es um die Thematik der interpersonellen Wahrnehmung. Die sogenannte „Anschweigespirale“ zeigt Momente der zwischenmenschlichen Kommunikation, in der die Worte fehlen, um die inneren psychischen Vorgänge einem Gegenüber zu verdeutlichen. Der Psychotherapeut Theodor Itten stellt dazu die Fragen: „Wie steht es mit der inneren Zensur des Auszusprechenden? Wie nehmen wir die oft beklemmende Wahrheit wahr, in einer Beziehung (Liebes-, Arbeits-, Freundschaftsbeziehung etc.) nicht mehr frei sprechen zu können? Wie wird damit umgegangen?“ Ein Beispiel dieses wortlosen inneren Zwiespalts verdeutlicht der Roman „Ruth“ der Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé. Sie schildert die innere Zerrissenheit eines jungen Mädchens, das in ihrem Lehrer etwas sucht, das er ihr nicht zu geben vermag.

Ein Leserbrief verdeutlicht diese Problematik nochmals und regt zum Weiterdenken an.
Herzlichen Dank dafür!

Liebes UniWehrsEL,

Sie hatten um einen Kommentar zu dem in der Überschrift genannten Roman gebeten, dem möchte ich gerne folgen.

Als erstes habe ich mir Gedanken zu dem Namen Ruth gemacht. Er kommt aus dem hebräischen und bedeutet Freund, Begleiter oder auch im weitesten Sinne Freundschaft. Da ist Nomen gleich Omen und ich finde, genau darum geht es der jungen Ruth in diesem Roman der großen Weltliteratur von der bedeutenden Romanschriftstellerin Lou Andreas-Salomé.

Rut ist eine Figur aus der Bibel. Es geht um eine mittellose Ausländerin, eine Witwe, die in Bethlehem ankommt, fest an den Gott Israels glaubt und ihren Weg geht, bis sie schließlich zur Ahnmutter König Davids wird. Sie beeindruckt durch Beharrlichkeit, Treue und Glaube.

Was hat nun diese Rut (übrigens ohne h) mit der kleinen Ruth in Andreas-Salomés Geschichte gemeinsam? Sie hat Fantasie, ist lebendig und mitreißend; fällt Erik, ihrem Lehrer, beim Korrigieren eines Aufsatzes und auf dem Schulhof durch ihre Lebendigkeit auf. Sie ist 16 Jahre alt, Waise und sehnt sich nach einem Zuhause (einer Heimat).

Die Geschichte von Ruth spielt in St. Peterburg am Ende des 19. Jahrhunderts und jeder weiß, dass sie autobiographische Züge zum Leben Lou Andreas-Salomé hat, denn auch in ihrem Leben gab es einen Lehrer, für den sie vorübergehend schwärmerische Gefühle entwickelt hatte, der sie heiraten und für sie Frau und Kinder verlassen wollte.

Erik ist hoch-intelligent, wollte eigentlich mehr sein als nur Lehrer, ist aber in Paris der bezaubernden Klara-Bel begegnet.

Er, der mit 21 Jahren Vater geworden ist, ist mit seiner inzwischen bettlägerigen Frau Klara-Bel und dem gemeinsamen Sohn Jonas gerade zum Auspacken im Sommerhaus in St. Petersburg angekommen. Seine Frau liebt ihn von Herzen, sie ist ihm bisher überall hin gefolgt, auch eine Zeitlang auf eine einsame Insel (immer wieder ist im UniWehrsEL die Rede vom besonderen Leben auf Inseln!). Sie hat nur eine Angst, dass er sie zulange alleine lassen könnte. Bedauernd sieht sie auf die Unordnung im Haus (eine Vorahnung auf kommendes Chaos im Leben aller Protagonisten?).

Ruth weiß nicht wohin ihr weiterer Weg gehen wird. Mit Abschluss der Schule beginnt für sie ein neuer Lebensweg, und den will sie beim gemeinsamen Lernen mit Erik teilen. Mit ihrem Onkel beschließt Erik, dass Ruth nachmittags zum Unterricht ins Haus Eriks kommen soll.

Erik will, so mein Eindruck, sie zu seinem Geschöpf machen, ihr seine Identität aufzwingen, so wie er es auch mit seiner Frau getan hat und auch für seinen Sohn will. Die junge Ruth spürt dies instinktiv (Schweigen darüber oder auch es nicht mit Worten ausdrücken zu können, ist die Folge). Dieses in sie „eindringen wollen“, wird auch beim von Ihnen im UniWehrsEL ausgesuchten Textausschnitt deutlich.

Ihre Augen waren groß und dankerfüllt auf ihn gerichtet; er konnte es an ihrem Gesicht sehen, wie die Gedanken in ihr vergebens nach Ausdruck rangen, aber er hatte dennoch keine Ahnung davon, mit welch einem innern Jubel ein neues Glück ihr aufging. Sie wollte es ihm so gern sagen, aber in ihrem wortarmen Gefühl verstummte sie statt dessen gänzlich, und plötzlich, als müßte sie sich anstatt des Wortes wenigstens durch die Gebärde helfen, glitt sie nieder vom Stuhl und kniete bei Erik hin, – wie auf einen ihr nun zugewiesenen Platz, erwartungsvoll, mit einem Blick wie ein Kind um Weihnachten.

»Ich kann es nicht sagen,« versicherte sie scheu, »bitte, bitte nicht.« …

Ob Erik mehr will, als sie bereit ist, ihm zu geben, bleibt ebenso ungesagt. Sie hat Angst, ergeht sich in Fieberträumen, bleibt im Haus bei Erik.

In wachen Zuständen fühlt sie sich bei Erik, im Haus von Klare-Bel und Jonas wohl und in der Familie gut aufgehoben. Sie mag Jonas, der sie schwärmerisch betrachtet und den Vater beargwöhnt, der Ruth immer mehr vereinnahmt. Er legt ihr sogar einmal eine Schlange um den Hals um ihr Angst zu machen, was Jonas auch sehr verschreckt.

Die Schlange ist bekanntlich seit Adam und Eva ein Symbol der Verführung. Spontan ziehe ich auch persönliche Vergleiche zu der Schlangenszene im Video von Kylie Minogue und Nick Cave and the Bad Seeds: Where the wild roses grow. Auch hier geht es darum, einen Menschen (ein junges unschuldiges Mädchen) ganz und gar besitzen zu wollen. Und auch ihre Jugend und Schönheit für immer zu erhalten. Aber vorsicht, seinerzeit ein abolutes Skandalvideo!

Es kommt, wie es kommen muss: am Ende versteht die junge Ruth, dass sie gehen muss, weil diese Geschichte keine gute Zukunft haben kann. Sie verlässt das Haus und hinterlässt nur eine Botschaft, die aus ihr herauszuströmen scheint: Sie muss gehen, um bleiben zu können! In dem Sinne, dass das letzte Jahr ein wunderbarer Traum war, aus dem sie nun aufgewacht ist. Wunderbar, dies zwischen den Zeilen lesen zu können – das braucht keine Worte, um Ruth zu verstehen.

Ihr Bleiben hätte fatale Folgen: Jonas verlöre den Vater, oder auch die Achtung vor ihm, weil er sehen würde, wie Ruth durch die ‚Formung‘ durch Erik ihre eigene Identität verlöre. Die Mutter ‚Bel‘ (Erik nennt sie so) zwänge sich dazu, Erik nicht mehr zu lieben und würde gehen.

Für den Leser ist das vielleicht das erstaunlichste bei diesem Coming-of-Age Roman, diese späte Entwicklung der Mutter, vom Geschöpf des Mannes hin zur eigenständigen Frau; vom Kind Jonas mit der ständigen Angst vorm Vater hin zu einem reflektierenden jungen Mann.

Ruth selber erwacht aus ihren Jungmädchenträumen, in denen es um die eingangs bei ihrem Namen genannten Parameter geht: Freundschaft und Begleitung, nicht nur durch den „Lehrer“ Erik, sondern auch seiner Frau und seines Sohnes. Sie versteht, dass dieser Mann ihr das nicht geben kann, was sie wirklich braucht und will: Freiheit und trotzdem Halt für sich selbst. Genau dies ist es, was sich auch ihre Erzählerin Lou-Andreas-Salomé für sich selber ein Leben lang gewünscht hat. Dies ist es, was sie mit Worten, die nicht explizit ausgesprochen wurden, dem Leser oder der Leserin implizit vermittelt hat.  

Mit besten Grüßen
Eine treue UniWehrsEL-Leserin

Herzlichen Dank für diesen spannenden Kommentar, den ich durch andere Leserbriefe gerne noch erweitern möchte. Es gab Hinweise zu Literatur zum Hören: Ruth als Lesung WDR 5 Ruth – Hörbuch

Die Ankündigung dazu: “Lou Andreas-Salomés Roman “Ruth” nimmt uns mit in das bürgerliche St. Petersburg des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ein feinfühliges Bild der Beziehung zwischen einer Jugendlichen und ihrem Lehrer, gelesen von Regina Münch.”

Eine andere Assoziaton galt einer als auswegslosen Situation geschilderten, einer in die Irre geführten Liebe, in der es zur Katastrophe kommt, es geht um die Tatortfolge 073: Reifezeugnis aus dem Jahr 1977.

Gerne würde ich Sie zu weiteren Diskussionen einladen! Danke für Ihre emails und Kommentare unter Kontakt hier im UniWehrsEL!