Georg Büchner (1813 – 1837)
Unsere Seminare in diesem Wintersemester 23_24 nehmen Fahrt auf. Das verdanke ich ganz besonders Ihnen und dem Mut, nicht nur in den Seminaren, sondern auch in nachfolgenden Gedankenspielen zu reflektieren und uns die Gelegenheit zu geben, hier im UniWehrsEL weiter zu denken. Es scheint so, als ob sich im Kontext überschreitender Themenbereiche „Nachterleben – Schweigen“ ganz erstaunliche neue Assoziationen ergäben. Danke dafür!
Wie nähert man sich an einen Bühnenstoff an, der im Allgemeinen besonders das Arme-Leute-Thema hervorhebt und in einen zeitkritischen Kontext stellt? Erlebt habe ich das 2016 in der Oper Frankfurt bei „Wozzeck“ in der Inszenierung von Christof Loy unter der musikalischen Leitung von Sebastian Weigle. Loy erschien es nach eigenen Angaben irgendwie „pittoresk“ oder zu heftig bemüht, etwas künstlerisch auszuformen, was arme Leute gemein hin sein sollen. Wenn Wozzeck selbst schon unentwegt zitiert „wir arme Leut`“liege die Gefahr nahe, die Bühnenfigur als selbstmitleidig oder als pures Opfer darzustellen. So verzichtete die Inszenierung auf Attribute von Armut und sozialem Elend und zeigte verstärkt Komponenten psychischer Verelendung auf: Erniedrigung, Verachtung, Sprachlosigkeit. (vgl. Programmheft der Städtischen Bühnen, 2016, S. 6)
Da gab es zunächst einmal ein Gutachten des Leipziger Mediziners Johann Christian Clarus, der sich mit dem Fall eines Mörders gleichen Vornamens befasste: Johann Christian Woyzeck. Clarus beschrieb nämlich, für die damalige Zeit recht ungewöhnlich, wie der Mörder Woyzeck sich nach vollbrachter Tat sofort als schuldig bekannte und wie er sich in den Verhören verhielt.
Offensichtlich würde daraus, so Christoph Loy, das Interesse Büchners an Woyzecks Fall. Psychologisch betrachtet, müsse die Artikulierung eines psychisch Kranken nicht der Wahrheit entsprechen, weil jeder Kranke eine spezifische Selbstwahrnehmung habe. Heute habe man dies als „Angstpsychose“ erkannt, mit den Symptomen paranoide Wahrnehmungen von Dunkelheit, Holheit und Leere, mit Wahrnehmung von Naturphänomenen, die ihm Angst bereiten und mit Stimmen, die befehlen, wie im Fall Woyzeck, eine Gewalttat zu begehen. Daraus könnte man folgern: man hätte auch schon damals erkennen müssen, Woyzeck leide unter Wahrnehmungsstörungen, die eigentlich nicht ausreichen, einen Menschen zum Tode zu verurteilen.
Was ist Schuld und Schuldfähigkeit und wie fähig ist die Gesellschaft mit einem Menschen mit einer derartigen Symptomatik umzugehen? Das sind die Fragen, die nach Meinung Christof Loys den Arzt und Autor Georg Büchner zum Schreiben des Dramas „Woyzeck“ veranlasst hätten.
Zum Drama: Woyzeck ist ein Gelegenheitsarbeiter mit Geldproblemen, darunter leiden seine Freundin Marie und das gemeinsame, uneheliche Kind Christian. Zu Woyzecks zusätzlichen Arbeiten zählt das Rasieren seines Hauptmannes, der sozial höher gestellt ist, ihn erniedrigt und als dumm und unmoralisch hinstellt. Aus Geldnot und Verzweiflung stellt Woyzeck sich auch als wissenschaftliches Forschungsobjekt zur Verfügung; obwohl er unter der verordneten „Erbsendiät“ psychisch und physisch leidet und dazu den Hohn und Spott des Doktors ertragen muss.
Unglücklich ist auch Marie, die eine Affäre mit dem sozial bessergestellten Tambourmajor beginnt, was Woyzeck erst hinnimmt, später aber in rasenden Zorn versetzt, den er nicht artikulieren kann. Der Tambourmajor prügelt und erniedrigt ihn, seine unterdrückte Verzweiflung lässt Woyzeck aber gewaltsam an Marie aus, die er schließlich in Raserei ersticht. Blutbeschmiert läuft er in ein Wirtshaus, um das Geschehene zu vergessen …
In Alban Bergs Inszenierung der Oper Wozzeck erlebt man fast noch intensiver den Ausnahmezustand des Mörders, der gleichzeitig Opfer ist, die Verzweiflung eines Menschen, der durch die Begegnung mit Doktor und Hauptmann immer mehr am eigenen Verstand zweifelt. Am Ende der Oper rennt Wozzeck nach dem Kneipenbesuch panisch ins Freie und „ertränkt sich in einem Teich nahe der Stelle, wo er Marie umgebracht hat. Von Spielkameraden erfährt Maries Kind, dass man seine Mutter umgebracht hat“ (Christopher Loy, 2016)
Was macht diese tragische Figur im Drama Woyzeck von Karl Georg Büchner 1836) und als Oper von Alban Berg (1885-1935) auch heute noch so aktuell, dass es, wie gerade im Staatstheater Mainz gezeigt, zu immer neuen Inszenierungen anregt? Dazu auch wieder Leserbriefe, die mich zu diesem Beitrag angeregt haben. Herzlichen Dank liebe UniWehrsEL-Schreiber!
25.10. 23 Liebes UniWehrsEL,
Heute schaue ich mir Woyzeck am Staatstheater Mainz an. Die Aufführung spielt im Schlachthaus. Ganz im Sinne von Brecht „erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Es spielt auch in der Nacht. Somit passt es zu unserem Thema des „Nachterlebens“. Die Schauspieler tragen Schweinemasken. Erinnert werden soll laut Programmheft an den Schlachtbetrieb Tönnies. Einen Fleischereibetrieb der in Corona 2020 durch seine besonders inhumane Betriebskultur auf sich aufmerksam gemacht hat. Seine osteuropäischen Arbeiter erinnern an Woyzeck‘s schlechte Lage. Deshalb auch die optische Verbindung mit der Bühne als Schlachthof.
Muss der Arme sich selbst abschlachten um zu überleben? Wie stark sind wir von Büchner‘s Zeit entfernt oder gibt es eine Rückkehr der schlechten Arbeitsbedingungen, ohne dass die heutige Gesellschaft dies wahrhaben möchte?
Ein Zukunft-besorgter UniWehrsEL-Leser
Worüber man nicht redet sollte man schweigen oder Worüber man nicht schweigen, sondern reden sollte!
26.10.23 Liebes UniWehrsEL,
Woyzeck/Marie, als erstes ist mir im Nachgang aufgefallen, dass das Stück nicht nur Woyzeck im Namen trägt, sondern auch Marie. Das soll wohl dem Zuschauer verdeutlichen, dass es nicht nur um das Schicksal des Mannes Woyzeck geht und Marie als Schicksalsgemeinschaft mitgedacht wird, sondern Marie als eigenständige Person betrachtet werden soll.
Besonders stark am Bühnenbild fand ich die Hände. Maries Hand unten, Woyzecks Hand oben. Manchmal haben sie sich fast berührt. Maries Hand wird von einem Mund verspeist. Hinter dem Mund verbirgt sich eine Kammer des Geschlechtlichen. Dort werden die Begierden/Verlangen ausgelebt.
Über dem Mund thront das herrschaftliche Zimmer. Es wird gereinigt. Es ist sauber. Das Esszimmer. Da residiert die Herrschaft. Die Herrschaft wird bedient von namenlosen Putzwesen. Auf der anderen Seite der Bühne ist die Fleischfabrik. Sie ist sauber, aber auch blutig. Denn das Handwerk des Fleisches ist blutig. Über der Fleischerei liegt das Überwachungshaus. Es wird gereinigt und für Kontrolle, Ordnung gesorgt. Denn nur durch Ordnung kann der Betrieb gedeihen.
In der ersten Viertelstunde verfolgt der Zuschauer den Alltag der Arbeiter. Er ist ritualisiert und stumm. Nur untermalt von Kirchenmusik. Diese ist auch rituell. Sie zeigt das Tagewerk. Es ist immer dasselbe. Der Alltag ist Routine. Arbeit ist immer da und muss von gesichtslosen Menschen erledigt werden. Es zeigt die Maschinerie ganz gut.
Mich erinnert das Putzen als Ritus an Disneys Alice im Wunderland. Dort räumen die Kartensoldaten auch hinter der Königin her. Sie malen die Rosen rot, weil dies der Befehl ist und weil aus Versehen weiße Rosen geordert worden sind. Es ist eine sinnlose Arbeit. Dennoch muss sie getan werden von den Soldaten. Genauso ist es wohl auch bei den Fleischereikräften.
Nach diesen 15 Minuten des Alltags kommen nun Stimmen aus dem Off dazu. So werden die anonymen Menschen schließlich doch zu Individuen. So erkennt der Zuschauer letztlich Woyzeck, Marie, den Tambourmajor. Trotz der Alltagsroutine kommen die Menschen sich nicht näher. Es liegt eine Distanz zwischen den Menschen. Das Bühnenbild hat aber auch comic-hafte Züge. So könnte ein Comicheld wie Batman problemlos auftauchen. Doch wäre Batman wohl zu schillernd für diese Welt. Irgendwie findet der Tambourmajor nun Gefallen an Marie. Sie wehrt sich nicht. Sprachlosigkeit! Das Stück läuft mehr durch Gesten, Anschleichen ab.
Versatzstücke aus dem Woyzeck-Dialog werden gesprochen. Sie verhallen. Sprache ist nicht so stark gegen die Bildersprache. Diese ist bedrohlich. Hatte Marie eine Abtreibung auf dem Fleischertisch? Gibt es eine Spannung zwischen dem Tambourmajor und Marie? Vielleicht. Ist Woyzeck ein Spanner, der in die Welt des Esstisches späht? Ist Woyzeck durch den Fleischkonsum wirr im Kopf? Alles ist mehr Alp-Traum denn wahres Leben. Denn dies besteht wie oben bereits erwähnt nun einmal als Arbeitsroutine nicht aus Beziehungsdrama.
Es ist spannend sich auf diese Welt der Gesten einzulassen. Es zeigt Worte verhallen. Dafür bleiben die Menschen irgendwie seelenlos in diesem Schlachthaus zurück. Die Gefühle sind anders als bei anderen Theaterabenden. Die Figuren berühren den Zuschauer nicht, so wie sonst. Liegt es daran, dass die Masken eine Distanz schaffen? Mitleid hat der Zuschauer nicht mit Marie oder Woyzeck – denn sie sind nicht greifbar, aber doch irgendwie geht von den Figuren und dem Setting eine Aura aus der sich der Zuschauer nicht entziehen mag. Irgendwie ist der Zuschauer gebannt, aufgrund der Bilder, aber trotzdem fühlt er sich fremd, sogar etwas verloren in dieser Welt des Fleisches. Vielleicht geht es den Schauspielern ähnlich?
Die Handschrift der Regie ist ungewöhnlich und hat etwas Mysteriöses. Nicht jedes Bild ist klar. Aber warum sollte ein Theaterabend auch wie eine Matheformel sein – also ganz logisch -, sondern es ist mehr ein Gefühl des Unbekannten. So kann der Zuschauer sich rühmen ein Abenteuer erlebt zu haben. Es ist ein wenig wie nach einer Fahrt mit der Geisterbahn – etwas gegruselt hat sich der Zuschauer, aber heil geblieben ist er trotzdem.
Mit Grüßen und Vorfreude auf unsere Gespräche in den Seminaren!
Alles nur ein Alptraum – oder eine Welt der beredten Gesten ohne Worte? Lassen Sie uns bitte darüber ins Gespräch kommen!