Viele Menschen haben heute reale Ängste. Wie schon der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem Sachbuch „Verlust“ konstatiert, kommen diese besonders zum Tragen, „wenn politische Ordnungen zerfallen, gewohnte Arbeitsweisen verschwinden, Gletscher schmelzen oder Urwald gerodet wird“. Dann würde Verlustangst verbreitet und verdrängt, weil uns die „Verlusteskalation“ überfordere. Bei Reckwitz geht es darum wie kulturelle Praktiken und soziale Strukturen helfen, Verlustangst zu bewältigen. Andere aktuelle Studien untersuchen wie reale Angstreaktionen unter Berücksichtigung der „sozialen Relevanz“ und durch „virtuelle Begleiter“ abgemildert werden können.
„Die Relevanz sozialer Faktoren zum chronischen Schmerz: sozialwissenschaftliche Untersuchung und sozialethische Evaluation“ ist ein laufendes Forschungsprojekt unter der Leitung von Prof. Claudia Bozzaro, CAU Kiel Medizinethik, mit einer Laufzeit vom 01.10.23 bis 30.09.28. Genauer betrachtet werden dabei die sozialen Einflussfaktoren, wie explizite oder implizite soziale Normvorstellungen, anthropologische Vorannahmen, gesellschaftliche Deutungen, auf den chronischen Schmerz Einfluss haben. Empirische Studien belegten, dass Erfahrungen von Einsamkeit, Isolation, sozialer Missachtung, Stigmatisierung und Diskriminierung einen wesentlichen Anteil am Leiden von Patient:innen mit chronischen Schmerzen haben. Sozialwissenschaftliche Studien mit Patienten, Angehörigen und Stakeholdern sollen nun soziale Faktoren identifizieren und in ihrer Relevanz untersuchen. Die anschließende sozialethische Evaluation der Ergebnisse diene als Grundlage für Empfehlungen für eine Verbesserung der Versorgungspraxis.
Im „Krankenhaus-IT Journal“ konnten wir im Mai 2025 nachlesen, es gäbe nun eine aktuelle Kooperationsstudie der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik und dem Lehrstuhl für Mensch-Computer Interaktion der Universität Würzburg. Diese komme zum Ergebnis, dass virtuelle Charaktere Angstreaktionen deutlich abmildern könnten, allerdings nur dann, wenn sie eine sogenannte „soziale Relevanz“ aufwiesen.
Wie können nun unter Berücksichtigung der sozialen Relevanz Angstreaktionen abgemildert werden?
Erste Ergebnisse: Gleichgeschlechtliche virtuelle Figuren und einfache Holzpuppen haben eine beruhigende Wirkung, sofern sie als empathischer Partner wahrgenommen würden. Die im Fachjournal Computers in Human Behavior veröffentlichen Ergebnisse eröffnen neue Perspektiven für den gezielten Einsatz virtueller Charaktere in digitalen Gesundheitsanwendungen. Die wissenschaftliche Zeitschrift, die sich mit der Computernutzung aus psychologischer Perspektive beschäftigt, liefert theoretische Originalarbeiten, Forschungsberichte, Literatur- und Softwarerezensionen, Buchbesprechungen und Ankündigungen.
Im Kontext von Angstreaktionen, gehe es darum, das Gefühl zu vermitteln: Du bist nicht allein!

Dieser sogenannte „Social Buffering“ kommt ursprünglich aus der Tierforschung. Dort hatten Versuche ergeben, Zebrafische zeigten in Gegenwart von Artgenossen weniger Angstverhalten (Faustino et al., Scientific Reports, 2017). Dabei spielt die Größe des sichtbaren Schwarms keine Rolle. Schon der Sichtkontakt zu einzelnen Artgenossen in benachbarten Aquarien konnte bedrohliche Reize, in diesem Fall ausgelöst durch eine Alarmsubstanz im Wasser, abschwächen. Prof. Dr. Grit Hein, Professorin für Translationale Neurowissenschaften am Uniklinikum Würzburg (UKW), untersuchte nun, diese Grundlagenforschung nutzend, ob der Effekt der bloßen sozialen Anwesenheit auch beim Menschen messbar sei, zunächst in der realen Welt und in einer aktuellen Studie in der virtuellen Welt.
„Soziale Interaktionen finden heute oft virtuell statt, aber die Auswirkungen von Social Buffering in der virtuellen Welt sind noch wenig bekannt“, erklärt Grit Hein.
Anwesenheit eines Artgenossen kann autonome Reaktionen auf aversive Reize abschwächen

Versuchsanordnungen mit Studienteilnehmern zeigten, die Anwesenheit einer realen Person kann Angstreaktionen schwächen, wobei sozial ängstliche Personen weniger von der Anwesenheit einer realen Person profitierten. Anders in der virtuellen Welt. Auch wenn den Testpersonen bewusst war, dass es sich um virtuelle Charaktere handelte, die sie durch die VR-Brille wahrnahmen, wirkten sie beruhigend.
Unheimlich menschlich: Vermeidung des Uncanny Valley-Effekts
Wie bereits in unseren Ausführungen im UniWehrsEL deutlich wurde, kam allerdings auch hier der Uncanny-Valley-Effekt zum Tragen. Auch diese Studie ergab: „Je menschlicher ein künstliches Wesen aussieht, desto sympathischer finden wir es – bis zu einem gewissen Punkt: Ist es zu menschenähnlich, aber eben nicht perfekt genug, kann es unplausibel wirken und so Verwirrung, eine so genannte kognitive Dissonanz, sowie unangenehme oder gar beängstigende Gefühle auslösen“.
Spannend, in der aktuellen Studie kamen zu der weiblichen und der männlichen Figur noch zwei Charaktere mit unterschiedlichen menschenähnlichen Merkmalen hinzu: eine einfache gesichts- und geschlechtslose, hautfarbene Holzpuppe und eine Punktwolke mit den groben Umrissen eines menschlichen Körpers.
Ergebnis zum Social Buffering mit Social Framing: Gleichgeschlechtliche virtuelle Figur und Holzpuppe wirken beruhigend, wenn sie als soziale Partner wahrgenommen werden. Aber: Die Holzfigur mit menschenähnlichen Zügen funktionierte nur mit sozialer Bedeutung. Das heißt: Den Probandinnen wurde vorher gesagt, dass der virtuelle Charakter ein Alarmsignal empfangen könne, wenn es ihnen nicht gut geht. Dies alleine wirkte aber auch nicht überzeugend. „Ich brauche ein Gegenüber, was ich als ‚Rettungsanker‘ sehen kann und was mich nicht bewertet, wie eben Woody“, interpretiert Grit Hein die Ergebnisse. Der männliche Charakter habe bei den ausschließlich weiblichen Probandinnen diese Funktion anscheinend nicht erfüllt, obwohl er genau wie Woody oder der weibliche Charakter eingeführt wurde.
Ohne dieses so genannte ‚Social Framing‘ hatte Woody (so wurde die Versuchspuppe genannt) keine beruhigende Wirkung. „Ein menschenähnlicher Charakter kann also durchaus Stress und Ängste reduzieren, sofern er eine soziale Bedeutung hat“, fasst Grit Hein die Ergebnisse der Studie zusammen, die jetzt in der Fachzeitschrift „Computers in Human Behaviour“ veröffentlicht wurde.

Weitere Ergebnisse: „Unsere größte Erkenntnis war, dass unsere Angstreaktion nicht von der optischen Detailtreue eines virtuellen Charakters abhängt, sondern davon, ob wir ihn als echten sozialen Partner betrachten“, resümiert Dr. Martin Weiß, Postdoktorand in der Arbeitsgruppe für Translationale Soziale Neurowissenschaften am UKW und gemeinsam mit Philipp Krop Erstautor der Studie. „Selbst eine stilisierte Figur kann – wenn wir ihr diese Rolle zuschreiben – unsere physiologischen Furchtreaktionen wirksam abpuffern. Das macht virtuelle Interventionen gegen Angst, wie zum Beispiel virtuelle Agenten oder KI-basierte Lösungen, wesentlich einfacher und günstiger zugänglich“, ergänzt Philipp Krop, wissenschaftlicher Mitarbeiter am CAIDAS.
Originalpublikation: Martin Weiß, Philipp Krop, Lukas Treml, Elias Neuser, Mario Botsch, Martin J. Herrmann, Marc Erich Latoschik, Grit Hein. The buffering of autonomic fear responses is moderated by the characteristics of a virtual character. Computers in Human Behavior. Volume 168, 2025, 108657, ISSN 0747-5632,
https://doi.org/10.1016/j.chb.2025.108657.
Weitere Informationen:
https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rspb.2019.2241 Vorgängerstudie
https://www.nature.com/articles/s41398-021-01761-5 Vorgängerstudie
https://www.nature.com/articles/srep44329 Zebrafisch-Studie
Quelle: Universitätsklinikum Würzburg