Auf die kürzlich erschienene Kritik zu Bugonia, möchte ein Leser neue Überlegungen einbringen. Eine packende Szene aus „Bugonia“ lässt ihm das Herz schneller schlagen: Teddy und sein Cousin Don brechen in das luxuriöse Anwesen der Biomedizin‑Magnatin Michelle Fuller ein, sperren sie in einem dunklen Keller und zwingen sie, einem wirren Plan zu folgen, der angeblich Aliens von der Erde vertreiben soll. Diese dramatische Wendung ist mehr als bloßer Nervenkitzel – sie wirft drängende moralische Fragen auf, die wir nicht ignorieren dürfen.
Sehr geehrte Redaktion,
Wer trägt die Schuld, wenn ein Unternehmen, das sich der Herstellung von Medikamenten verschrieben hat, gleichzeitig Menschenleben gefährdet, ganz zu schweigen von Tierversuchen, deren Relevanz für den Menschen umstritten ist? Im Film „Bugonia“ steht Michelle Fuller an der Spitze eines Konzerns, dessen Versuchs-Produkte bereits zu schweren Schäden geführt haben – etwa bei Teddys Mutter Sandy. In diesem Kontext erscheint die Entführung der bösen Konzernchefin durch das Opfer Teddy nicht als bloßer Akt der Rache, sondern als verzweifelter Versuch, ein System zu bekämpfen, das als übermächtig und unkontrollierbar und darum als unmenschlich empfunden wird.
Wie rechtfertigt ein „Verschwörungstheoretiker“ das Vorgehen, eine Person zu entführen, um sie als „Alien“ zu entlarven? Teddy, gefangen in einer Welt aus Verschwörungserzählungen, glaubt, einem noch größeren Problem gegenüberzustehen. Seine Handlung stellt die Frage in den Raum, ob das Brechen von Gesetzen und das Ausüben von Gewalt jemals ein legitimes Mittel sein können, wenn das Vertrauen in den Staat und die Polizei bereits erschüttert ist.

Welcher Verantwortung muss ein übergriffiger Staat oder eine Polizei nachkommen, die solche Taten nicht verhindert, sondern möglicherweise stillschweigend duldet? Die wachsende Opioid‑Krise in den USA hat das Vertrauen in staatliche Institutionen und die Pharmaindustrie nachhaltig beschädigt. Viele Menschen fühlen sich von einem übermächtigen System im Stich gelassen – ein Gefühl, das in Teddys Tatendrang und seiner Bereitschaft zur Selbstjustiz mündet.
Der Vergleich zwischen Michelle Fuller, des vermenschlichten Aliens, und Frankensteins Monster, des Wesens, das durch Experimente eines Arztes misbraucht wurde, ist dabei besonders aufschlussreich. In „Poor Things„, Yorgos Lanthimos‘ Adaption des Romans von Alisdair Gray, verschmilzt die Frau und die Kreatur zu einer einzigen Person, der Bella Baxter, die von einem exzentrischen Wissenschaftler von den Toten zurückgeholt wurde. Dagegen ist Michelle Fuller kein armes Werkzeug eines Schöpfers, sondern möchte ihrerseits als Konzernchefin die Menschen für ihre Experimente missbrauchen, um Gewinne zu erzielen. Anders ist Bella Baxter ein menschliches Wesen, das von seiner Umgebung missbraucht wird, um zu zeigen, wie ein Mensch von den Toten wieder auferweckt werden kann, dank ärztlicher Kunst..
Während das zum Monster gemachte Wesen Bella nach Anerkennung und Freiheit strebt, ist Michelle die „Bienenkönigin“ in ihrem eigenen Konzern und ein Symbol der Macht der Pharmaindustrie, der die „Arbeiter:Innen“ folgen müssen. Ihre Grausamkeit macht sie zum Objekt einer Alienthese, die ihr Entführer aufstellt. Bella gerät ins Spannungsfeld zwischen Fremdbestimmung und dem Wunsch nach Selbstermächtigung, Michelle ist Selbstermächtigte und Fremdbestimmerin.
Teddy sieht sich selbst als den Retter einer Welt, die von einer unsichtbaren Alien‑Bedrohung heimgesucht wird. In seinem Inneren tobt ein seelischer Zustand, in dem das Unterbewusste zwischen Angst, Wut und dem Wunsch nach Kontrolle pendelt. Diese innere Gefühlslage, die er nicht zu benennen vermag, projiziert er auf das fremde „Alien“, das er zu besiegen glaubt. Die düstere Seite, die in jedem Menschen liegt, wird für ihn zum äußeren Feind, den er mit Gewalt zu vernichten versucht. Hier könnte die Analytische Psychologie C. G. Jungs und das zentrale Konzept des „Schattens“ ein Erklärungsmuster bieten. Zum Schatten gehören die dunklen Seiten unserer Persönlichkeit, die wir an uns selbst ablehnen und ins Unbewusste verdrängen oder auf andere projizieren.
Was treibt einen Menschen zu solch einer Tat? Die Antwort liegt nicht allein in Teddys persönlicher Geschichte, sondern in der (amerikanischen) Gesellschaft, die das Prinzip „Jeder ist seines Glückes Schmied“ zu einem Dogma erhoben hat. Dieses Mantra verlagert die Verantwortung für kollektive Missstände – die Opioid‑Krise, die unkontrollierte Macht der Pharmaindustrie, das Versagen staatlicher Aufsicht – auf das Individuum. Der Einzelne erscheint ohnmächtig, während die Gesellschaft ihm die Schuld für das Unheil zuschreibt, das sie selbst geschaffen hat. In Teddys Welt wird diese Verlagerung zur Rechtfertigung seiner Selbstjustiz: Er sieht sich nicht als Täter, sondern als Held, der das Böse – das „Alien“ – aus dem System herausreißt.
Nach Teddys Sichtweise könnte Michelle Fuller eine Figur sein, die von einer höheren Macht geformt wurde und von ihm zerstört werden kann. Michelles Kontrollfunktion endet seiner Meinung nach mit der Gefangennahme im Keller. Er, der sich selbst als Befreier der Menschheit versteht, wird selbst zum neuen Monster, das seine eigenen Schatten in Gewalt an dem vermeintlichen Verursacher seiner Leiden umsetzt.

Die (amerikanische) Gesellschaft trägt einen erheblichen Anteil an dieser Tragödie, indem sie Tatkraft als individuelle Pflicht stilisiert und gleichzeitig strukturelle Probleme ignoriert. Wenn das kollektive Versagen nicht als solches benannt wird, finden sich Menschen wie Teddy in der Falle, ihre innere Dunkelheit nach außen zu projizieren und mit brutalen Mitteln den imaginären Feind zu bekämpfen. So verstanden könnte der Film uns auffordern, die Verlagerung von gesellschaftlichen Problemen, hin zu individuellen Schuldzuweisungen zu hinterfragen und zu erkennen, dass wahre Veränderung nur möglich ist, wenn die Gesellschaft die Verantwortung wieder auf die Gemeinschaft als Ganzes zurückführen, anstatt sie auf einzelne (selbsternannte) „Helden“ oder „Racheengel“ zu schieben.
Danke für die Einschätzung an den Schreibenden. Die Redaktion des UniWehrsEL verweist nicht nur an dieser Stelle darauf, dass die hier veröffentlichten Artikel die Meinung des jeweils Schreibenden wiedergeben!
Danke für Bilder von Pixaby und Titelbild Anna Na-Maus auf Pixabay
