Im Beitrag zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ spielen animalische Gefühle eine besondere Rolle. Das regte zu einem Kommentar an, bei dem das Thema der Liebe und der Begierde im Mittelpunkt steht. Die Liebe gilt nicht nur zu Shakespeares Zeiten als ein universelles Verbindungselement. Meine Gedanken gelten der Plötzlichkeit der Liebe und der Begierde, ihrer mechanischen Richtungsänderung bzw. Auswechselbarkeit, und last but not least der Übertragung des Shakespearstoffes in eine Großstadtgeschichte der Neuzeit. So geschehen bei Chris Adrains Adaption des Theams in „Die große Nacht“ (2012).
Lieber Kulturbotschafter des UniWehrsEL,
zunächst herzlichen Dank für Ihre interessanten Ausführungen zur magischen Sommernacht bei Shakespeare, bei der die animalischen Triebe zur Geltung kommen. Diese Gedanken möchte ich fortsetzen und durch eine spannende Adaption ergänzen.
Die plötzliche Liebe und die Begierde
In Shakespeares Texten ist die Liebe oft plötzlich und überwältigend. Sie entfaltet sich wie ein Gift, das die Figuren in seinen Bann zieht. Diese Begierde, die in der Hitze des Augenblicks entsteht, ist nicht nur ein flüchtiges Gefühl, sondern erfüllt das ganze Wesen der Charaktere. Begierde kann als ein starkes Verlangen nach körperlicher Nähe und emotionaler Verbindung definiert werden, das oft von einer gewissen Unberechenbarkeit und Intensität geprägt ist. Im „Sommernachtstraum“ bleibt von diesem Liebeswahn nur das Plötzliche der Begierde, das die Figuren in einen Strudel der Verwirrung und des Austauschs zieht.

Die Partnerwahl im Rausch des Waldes geschieht fast anonym, als ob die Identität des anderen in den Schatten der Nacht verschwindet. Die Figuren begegnen sich nicht als klar definierte Individuen, sondern als Wesen, die in einem Moment der Nähe und Intimität miteinander verbunden sind. Diese Ambivalenz verstärkt das Gefühl des Wahnsinns, das eine Juninacht mit sich bringt. Der Sommer, mit seiner Hitze und Lebendigkeit, schafft eine Atmosphäre, in der die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwimmen.
Am Ende dieser nächtlichen Abenteuer empfinden die Liebenden oft Scham und Unbehagen über das, was geschehen ist. Sie ziehen es vor, die Erlebnisse zu verdrängen und nicht darüber zu sprechen, was an die Dynamik in Mozarts „Entführung aus dem Serail“ erinnert. Dazu auch unser Beitrag „Die Entführung aus dem Serail – Lehren aus der Märchenwelt„, wo es im wesentlichen um die Liebesbeziehung zwischen (europäischen) Männern und Frauen geht. Auch dort entscheiden die Paare, ihre Gefühle nicht weiter zu thematisieren, was die flüchtige Natur ihrer Anziehung unterstreicht.
Im „Sommernachtstraum“ reflektieren die vier Protagonisten über die Launen eines bösen Traumes, der sie in einen Zustand der Verwirrung und des Verlangens versetzt hat. Doch die Nacht hat ihnen auch eine Art von Freiheit geschenkt. In den Träumen, die sie erlebt haben, waren ihre Gefühle authentisch und unverfälscht. Diese emotionale Wahrheit wird jedoch in der Rückkehr zur Zivilisation schnell wieder zurückgedrängt.
Sobald die Figuren in die gesellschaftlichen Normen und Erwartungen zurückkehren, verlieren sie die animalische Unmittelbarkeit, die sie in der Nacht erfahren haben. Die Freiheit, die sie im Wald genossen haben, wird durch die Zwänge des Alltags ersetzt, und die intensiven Emotionen, die sie erlebt haben, scheinen in der Helligkeit des Tages verblasst. Diese Rückkehr zur Zivilisation bringt eine neue Schicht der Komplexität in die Beziehungen, da die Figuren sich wieder in die Rollen fügen müssen, die von der Gesellschaft vorgegeben werden.
So bleibt die Frage, ob die Erfahrungen der Nacht tatsächlich eine tiefere Wahrheit über die menschliche Natur offenbaren, oder ob sie lediglich flüchtige Illusionen sind, die im Licht des Tages zerfallen. Die Spannung zwischen dem animalischen und dem zivilisierten Verhalten bleibt ein zentrales Thema, das sowohl in Shakespeares Werk als auch in der modernen Gesellschaft relevant ist.
Die Mechanik der Begierde
Die Beziehungen zwischen Helena, Demetrius, Hermia und Lysander sind geprägt von einer mechanischen Richtungsänderung der Begierde. Diese Auswechselbarkeit der Partner ist zentral für die Handlung und spiegelt die Ambivalenz der menschlichen Gefühle wider. Der Wald, als Ort der (Gefühls-)Freiheit und des Ausbruchs aus der städtischen Moral, ermöglicht es den Figuren, ihre Wünsche auszuleben, ohne die Konsequenzen der Zivilisation fürchten zu müssen. Diese Dynamik erinnert an Mozarts „Cosi fan tutte“, wo die Paare ebenfalls in einem Spiel der Verführung und des Austauschs gefangen sind.
Die Begierde in Shakespeares Werk ist nicht nur eine körperliche Anziehung, sondern auch ein Ausdruck von Sehnsucht und unerfüllten Wünschen. Sie ist ein Spiel mit der Vorstellung von Liebe, das oft in einem erotischen Kontext stattfindet. Diese Erotik ist jedoch nicht nur verführerisch, sondern auch intensiv, da sie die Charaktere in einen Zustand der Verwirrung und des inneren Konflikts stürzt.
In der modernen Gesellschaft spiegelt sich diese Dynamik der Begierde in den oft flüchtigen und oberflächlichen Beziehungen wider (der One Night Stand), die durch digitale Medien und soziale Netzwerke geprägt sind. Die Möglichkeit, sich schnell und anonym zu vernetzen, führt zu einer neuen Form der Anziehung, die ebenso impulsiv und unberechenbar ist wie die Liebe in Shakespeares Sommernachtstraum. Die Charaktere im „Sommernachtstraum“ handeln aus ihren Instinkten und überschreiten gesellschaftliche Grenzen, was in der heutigen Zeit durch die Entgrenzung von Beziehungen und die Suche nach unmittelbarem Vergnügen erneut relevant wird.
Chris Adrians „Die große Nacht“

Chris Adrians verlegt Shakespeares „Sommernachtstraum“, in das San Francisco der Gegenwart und schafft damit einen amerikanischen Sommernachtstraum mit dem Titel „Die große Nacht“. Es geht um drei junge, recht neurotische Großstädter, die im Buena Vista Park der Stadt in das Treiben von Elfenkönig Oberon und seiner Königin Titania geraten. Sie trauert um den Verlust eines ihrer Lieblingskinder. Daraus gestaltet Adrian eine surreale Mischung voller Komik, Tragik, Liebe und Verlust. Begehren wird zur derben Erotik, Orgien gipfeln in „Blowjob-Elfen“.
Wut und Trauer um ein verlorenes Kind und dazu noch ein Mann namens Oberon, der Titania in dieser Situation nicht zur Seite stehen kann oder will, dazu das Mittsommerfest, die größte Nacht des Jahres, das sind die Grundlagen, frei nach Shakespeare. Bei Adrian finden sich depressive, von Lebenstragödien geplagte Menschen. Sie irren durch die „Boutiquenwildnis“ des Buena-Vista-Parks von San Francisco und treffen die tobende Titania. Statt Feenkönigin eine Friseuse im Trainingsanzug, statt Handwerkermeistern eine Bande von Obdachlosen. Eingeübt wird ein Musical. Den Rezensenten erscheint dieses „Gewebe aus Drogenhalluzinationen und Happenings“ kitschig, aber in seiner tragikomische Verbindung aus „karnevalesker Mythentravestie und Shakespeare-Nacherzählung“ auch bewundernswert, nicht zuletzt dank der hervorragenden Übersetzung von Thomas Piltz (vgl. Rezensionsnotiz zur Frankfurter Rundschau, 2012).
Danke für den Kommentar dieses UniWehrsEL-Lesers und die Impressionen, samt Bild des nächtlichen San Francisco auf Pixabay!