Laufen offen geäußerte Kritiken der Bürger automatisch Gefahr, unter den Verdacht des Rechtsextremismus gestellt zu werden? Eine Frage, die bei Schriftsteller Uwe Tellkamp („Der Turm“) und seinem Kollegen Durs Grünbein zu heftigen Kontroversen führte. Suhrkamp habe sich von Autor Tellkamp distanziert, ließ sich weiter vernehmen, hat aber 2022 „Der Schlaf der Uhren“ herausgebracht. Uwe Tellkamp habe andere Ansichten als Durs Grünbein zu freier Meinungsäußerung. Er beklage zudem, Kritik an der Flüchtlingspolitik; falle sie doch schnell unter Rassismus-Verdacht. Aussagen von AfD-Mitgliedern würden grundsätzlich negativ bewertet. Grünbein konterte zum Statement des „medialen Gesinnungskorridors“, der an die DDR erinnere. Der Kulturotschafter des UniWehrsEL hat sich kritisch mit dem „Fall Tellkamp“ und seinen Aussagen als Autor auseinandergesetzt.
Liebe Leser des UniWehrsEL,
Die Zeit schreibt 2018: „Die Schriftsteller Durs Grünbein (55) und Uwe Tellkamp (49) haben sich vergangene Woche in Dresden auf einer Diskussionsveranstaltung zur Meinungsfreiheit einen Schlagabtausch geliefert. Tellkamp kritisierte dabei die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und beklagte einen „Gesinnungskorridor“. Der Suhrkamp Verlag wies anschließend in einem Tweet darauf hin, dass „die Haltung, die in Äußerungen von Autoren des Hauses zum Ausdruck kommt, nicht mit der des Verlags zu verwechseln“ sei – eine unübliche Art der Distanzierung eines Verlags von seinem Autor. Uwe Tellkamp war zu einem Gespräch mit der ZEIT nicht bereit.“
Tellkamp, so kann man an anderer Stelle (Deutschlandfunkkultur) nachlesen, fühle sich heute bereits in einer „Kulturdiktatur“ und beklage, wie die WELT berichtet, den Moralismus der „Vielen“: „Unter dem Namen „Berliner Erklärung der Vielen“ hatten sich am 9. November 2018 Kulturinstitutionen gegen die aus ihrer Sicht zunehmend rechtsnationale Propaganda zusammen geschlossen. Tellkamp dagegen hat eine lange Liste bekannter Zeitungen und Zeitschriften gesammelt, denen er „eine Wucht des Common Sense“ vorwirft ebenso wie die „Maßregelung“ und „Zurechtweisung“ anderslautender Meinungen.“
Nicola Gess geht mit Relotius, Jebsen und Tellkamp hart ins Gericht. In „Halbwahrheiten“ beschreibt sie, Relotius und Jebsen würden zwar als investigative Journalisten agieren, aber dann auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Zielsetzungen, grundlegende journalistische Standards aushebeln. Auch Tellkamp (Gess: „“Der Rechtsruck oder Der Fall Tellkamp“, S. 86) erwecke zwar den Anschein eines Interesses an einem rationalen Diskurs, torpediere dann aber durch das operieren mit Halbwahrheiten und einer entgleisten Verdachtshermeneutik. Halbheiten würden alle Drei sich zunutze machen, um für sich das Beste zweier Welten zu beanspruchen: bürgerliche Partei und außerparlamentarische Opposition, investigativer Journalismus und Geschichtenerfinder, Tatsachen und Fiktionen (ebd. S.99 – 100).
Tellkamp selbst nimmt 2022 im Dresdner Stadtmuseum Stellung zur wachsenden Kritik an seiner Person. Die Meinung allgemein sei, wer sich öffentlich äußere, der müsse Widerspruch aushalten und in die Ecke hätte er sich schließlich ja selber gestellt. Ihm perslnlich sei wichtig, dass man grundsätzlich unterscheide zwischen ihm als Mensch und ihm als Künstler.

Das veranlasst mich dazu, zunächst über Tellkamp und seinen Roman „Der Turm“ im Kontext von Lüge, Wahrheit und deren Grauzonen, den Halbwahrheiten, nachzudenken. Interessanterweise ist gerade die Frage nach Lüge, Wahrheit und Halbwahrheit meines Erachtens eines der zentralen Motive in Uwe Tellkamps Der Turm. In einer geschlossenen Gesellschaft wie der DDR, in der Repression und Überwachung den Alltag prägen, verschwimmen die Grenzen zwischen moralischer Integrität und notwendigem Opportunismus. Um zu überleben, greifen die Figuren des Romans – und auch die der Wiesbadener Theaterinszenierung zu Tellkamps Roman „Der Turm“ (2010) – immer wieder zu Halbwahrheiten oder direkten Lügen. Aber ist Anpassung nicht manchmal der einzige Weg, die eigene Menschlichkeit zu bewahren? Diese Ambivalenz stellt nicht nur die Figuren, sondern auch das Publikum vor eine tiefgehende moralische Reflexion: Wie viel Wahrheit kann eine Gesellschaft ertragen, und wie viel Lüge ist notwendig, um in einem solchen System nicht unterzugehen?

Da ist zunächst einmal der Turm als Symbol für Schutz und Gefangenschaft. Der titelgebende Turm, in dem sich die intellektuelle Elite der DDR zurückzieht, wird zum greifbaren Symbol für diese moralischen Konflikte. Er steht einerseits für den Rückzug in eine Welt der Literatur, Kunst und inneren Werte – eine Art Schutzraum vor den Augen der Staatsmacht. Andererseits wird der Turm selbst zu einem Gefängnis, das die Isolation seiner Bewohner verdeutlicht und ihre Unfähigkeit zeigt, aktiv gegen das System zu handeln.
Die Hauptfigur Christian Hoffmann verkörpert diesen Zwiespalt besonders eindrücklich. Als junger Mann versucht er, in dieser geschlossenen Gesellschaft einen Platz zu finden, der seinen moralischen Idealen entspricht, ohne seine Zukunft zu gefährden. Doch er wird immer wieder gezwungen, Kompromisse einzugehen, sei es durch Anpassung an das System oder durch persönliche Lügen. Christians Leben im Schatten des Turms zeigt, wie schwer es ist, in einem solchen Umfeld zwischen Lüge, Halbwahrheit und Wahrheit zu navigieren, ohne seine Identität zu verlieren.

Lassen Sie uns gemeinsam über die Bedeutung des Turms als Symbol nachdenken: Der Turm trägt sowohl wörtliche als auch symbolische Bedeutung. Der Turm steht für Rückzug, intellektuelle und kulturelle Isolation sowie die Suche nach einem inneren Schutzraum, fernab der äußeren Repression. Doch wie im Märchen Rapunzel wird der Turm auch zum Gefängnis: ein Ort, der einerseits Schutz bietet, andererseits die Gefangenschaft und Einsamkeit der Figuren verstärkt. So sind die Bewohner des Turms nicht wirklich frei; ihre innere Emigration ist ein Ausdruck des Scheiterns, dem System vollständig zu entkommen. Diese Symbolik des Turms wurde im Bühnenbild der Wiesbadener Aufführung physisch greifbar gemacht. Ein monumentaler Turm beherrschte die Bühne, ein visuelles Symbol für Isolation, Hoffnung und Verzweiflung. Durch geschickte Licht- und Schatteneffekte wurde das Spannungsverhältnis zwischen Schutz und Gefangenschaft betont.
Dies weckte bei mir Assoziationen zu Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ (dazu auch unser Beitrag Rache am Vater – die Brüder Karamasow) : Die Oper, basierend auf Dostojewskis Roman, schildert das Leben in einem sibirischen Straflager, geprägt von Isolation, Zwangsarbeit und Entmenschlichung. Die Insassen kämpfen darum, in einem repressiven Umfeld ihre Würde zu bewahren – ein Kampf, der auch die Figuren in Der Turm beschäftigt. Sie nutzen Bildung, Kunst und Rituale als Mittel, um ihre Identität zu behaupten, doch die ständige Überwachung und die moralischen Kompromisse lassen keinen echten Raum für Freiheit. Die Inszenierung von Der Turm im Jahr 2012 hinterließ einen tiefen Eindruck beim Publikum. Die Mischung aus intensiver Charakterdarstellung und einer beeindruckenden visuellen Gestaltung schuf eine dichte Atmosphäre, die die Thematik der geschlossenen Gesellschaft emotional greifbar machte. Besonders die Frage nach Wahrheit und Lüge sowie die symbolische Bedeutung des Turms fanden großen Anklang.

Damit bin ich bei der Aktualität und Verbindung zur heutigen Gesellschaft angelangt: Auch in der heutigen Gesellschaft sind die Themen des Stücks von Relevanz. Moderne Formen der Überwachung, sozialer Druck und Isolation werfen ähnliche Fragen auf wie die, mit denen die Figuren in der DDR konfrontiert waren. Der Turm mahnt uns, die Mechanismen sozialer Kontrolle und persönlicher Anpassung zu reflektieren und die Werte von Freiheit und Wahrheit zu verteidigen. Die Wiesbadener Aufführung von Der Turm war mehr als nur eine literarische Adaption – sie war eine zeitlose Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen menschlicher Freiheit und Moral in einer geschlossenen Gesellschaft. Sie lädt dazu ein, Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Verbindung zu setzen und einen kritischen Blick auf unsere eigene Zeit zu werfen.
„Der Schlaf in den Uhren“ folgte 2022 und dazu kritisiert der Deutschlandfunk, weil Tellkamp inzwischen als „rechtsnationaler Intellektueller“ aufträte, gäbe es viele Fragen an dieses neue Buch. „Biblisch, episch, kafkaesk beginnt dieser Roman, der hinabführt ins dunkle Bergwerk der politischen Dystopie. Es ist das Jahr 2015. Fabian Hoffman, eine von vielen Figuren aus Uwe Tellkamps „Der Turm“, nun Erzähler und Protagonist des jetzt erscheinenden Nachfolgers, arbeitet in den Katakomben der fiktiven Kohleninsel, einem unterirdisch-labyrinthischen Ort der sogenannten „Sicherheit“, die sich wie ein Spinnennetz aus den einstigen Fäden der „Stasi“ weitergesponnen hat – einflussreicher und mächtiger als je zuvor.“
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