Du betrachtest gerade Nostalgie: Russlandbilder zwischen Lesung, Film, Theater und Klischee

Die „Darmstädter Gespräche“ am Staatstheater Darmstadt bewiesen immer wieder, dass Theater und Literaten sich gleichermaßen mit Fragen des politischen und gesellschaftlichen Austauschs beschäftigen. Literaten fangen aber, im Gegensatz zu Geschichtsschreibern, die Stimmungen des Publikums auf und bringen eine emotionale Färbung in ihre Geschichten. Bücher bergen Erinnerungen, positive und negative. Das wurde deutlich in den Ausführungen zu „Kairos“ und „Otze Axt“. Theatermacher holen das Publikum bei bestimmten Weltanschauungen ab. Die politische Wende thematisierte das Theaterstück Goodbye Lenin, das Nostalgie und mit ihr eine Welle von Emotionen mit sich brachte. Während die Geschichte um Alex‘ Versuch, die DDR für seine Mutter weiterleben zu lassen, in Meiningen gespielt wurde, war das Publikum spürbar ergriffen. War es nur Nostalgie oder echte Sehnsucht nach einer Zeit, die in den Erinnerungen lebendig wurde?

Liebe Leser des Blogs UniWehrsEL,

Im Gegensatz zum kognitiven Erinnern an Zahlen oder Namen, spielen bei der Nostalgie Emotionen wie Freude und Traurigkeit eine Rolle. Ausgelöst werden nostalgische Erinnerungen von bestimmten Sinneseindrücken. Orte, an denen man früher war, ein Geruch, ein Geschmack oder ein Lied, das im Radio läuft, Bücher und Filme, die man verinnerlicht hat. Gerne möchte ich Sie auf eine nostalgische Reise mitnehmen.

Sehnsucht nach der guten alten Zeit ergreift mich, wenn ich daran zurückdenke, wie an der Bar des Staatstheaters Darmstadt in den 2000ern dieser Ort zur literarischen Bühne geriet, zum Schauplatz russischer Nostalgie und ausgelassener Heiterkeit. Die Lesung von Russendisko begann ganz unschuldig: ein paar Stühle, ein Mikrofon, ein erwartungsvolles Publikum. Doch dann, eine unerwartete Bewegung – die Schauspielerin griff nach hinten, öffnete einen Kühlschrank und zog eine gigantische Vodka-Flasche heraus, wie man sie sonst nur bei Siegerehrungen der Formel 1 sieht.

Ein Raunen ging durch die Menge. Dann Stille. Alle hielten den Atem an, als die erste Runde eingeschenkt wurde. Doch kaum war der erste Schluck getrunken, brach schallendes Gelächter aus. Kein verhaltenes Schmunzeln, kein leises Kichern – es war hemmungslos, laut und herzlich. Mit jedem Abschnitt wurde das Lachen noch ausgelassener, bis der ganze Raum vibrierte vor Amüsement.

Kaminers Russendisko war genau das – eine Sammlung von Geschichten über Einwanderer, über Berlin, über das russische Lebensgefühl zwischen Melancholie und ausgelassener Freude. Die Lesung war ein Spiegel dieses Gefühls: ein Abend zwischen Literatur und Leichtigkeit, zwischen Wodka und Weltschmerz.

Die theatralische Erkenntnis daraus war: Russland ist wie eine Matroschka: Man öffnet eine Schicht und findet eine neue Überraschung darunter. Eine Puppe in der Puppe, eine Geschichte in der Geschichte, ein Geheimnis, das sich nie ganz entschlüsseln lässt. Psychologisch gesehen steht die Matroschka für die Vielschichtigkeit der Identität – ein Land voller Gegensätze, das stets zwischen Vergangenheit und Gegenwart schwankt. Wer denkt dabei nicht spontan an den berühmten „Doktor Schiwago“.

Eine Szene wie ein Bühnenstück – Doktor Schiwago

Die Vorhänge öffnen sich, und ein eisiger Wind fegt über die endlose, schneebedeckte Landschaft. Vorne auf der Bühne der Schlitten – ein elegantes, dunkel gebeiztes Holzgestell, dessen Kufen sanft auf der glitzernden Schneedecke ruhen. Der Himmel über ihnen ein tiefes, frostiges Blau, durchzogen von dramatischen Wolken, die sich schwer und drohend über den Horizont legen.

Dr. Juri Schiwago sitzt stumm, die Schultern leicht gebeugt, die Augen verloren in der unendlichen Weite vor ihm. Lara neben ihm, ihr Mantel schwer mit Frost überzogen, die Fingerspitzen verborgen in dicken Pelzhandschuhen. Ihre Blicke begegnen sich für einen Augenblick – ein winziges Fragment von Wärme in einer Welt aus Kälte und Abschied.

Die Stille ist greifbar, fast wie ein Charakter auf der Bühne, unterbrochen nur vom knarrenden Geräusch des Ledergurts, mit dem die Pferde das Gefährt ziehen. Der Schnee unter den Kufen scheint nachzugeben, ein sanftes Widerstandsspiel zwischen Vergangenheit und der unvermeidlichen Zukunft.

Die tragische Geschichte von Boris Pasternak

Doch hinter der Schönheit des Romans und des gleichnamigen Films verbirgt sich eine düstere Realität. Boris Pasternak, der geniale Autor von Doktor Schiwago, zahlte einen hohen Preis für seine Kunst. In der Sowjetunion galt das Werk als gefährlich, als zu westlich, als zu kritisch gegenüber dem Regime. Die Veröffentlichung war undenkbar – ein Roman über Liebe, Freiheit und die Wirren der Revolution passte nicht in die kontrollierte Erzählung der sowjetischen Führung.

Als Pasternak 1958 den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam, setzte ihn die Regierung massiv unter Druck. Er musste die höchste Ehrung eines Schriftstellers ablehnen – eine Entscheidung, die nicht aus freiem Willen kam, sondern aus nackter Angst. Die westliche Welt feierte ihn als literarischen Helden, doch in seiner Heimat wurde er zum Verräter erklärt. Das Drama seines Lebens stand damit in direkter Verbindung zu dem Drama seines Romans.

Get Abstract beschreibt den Kurzinhalt: „Der verheiratete Arzt und Dichter Juri Shiwago verliebt sich an der Front im Ersten Weltkrieg in die Krankenschwester Lara Guichard, die ihrerseits auf der Suche nach ihrem tot geglaubten Ehemann ist. Dieser, ein in Ungnade gefallener Revolutionär, wird von den Kommunisten verfolgt; auch Lara muss fliehen. Erst nach Jahren kehrt sie nach Moskau zurück, wo ihr Geliebter, Shiwago, gerade zu Grabe getragen wird.“

James Bond und die russischen Bösewichte – Klischees und Kalter Krieg

James Bond war nie nur ein Geheimagent – er war ein Symbol für den Westen, für Eleganz, für Kontrolle. Die russischen Gegenspieler hingegen? Sie waren das pure Gegenteil. In den Filmen der 60er und 70er war der Kalte Krieg nicht nur eine politische Realität, sondern ein dramaturgisches Element: der ewige Kampf zwischen Freiheit und Disziplin, zwischen Charme und Härte.

Warum fürchtete das Publikum die Russen? Weil sie anders waren. Ihre Gesichter hart wie Granit, ihre Stimmen kalt wie sibirischer Frost. Sie tranken keinen Martini, sie tranken Vodka – ohne Eis, ohne Diskussion. Ihre Pläne waren präzise, ihre Labore unterirdisch, ihre Autos groß und schwarz. Es war ein perfekt inszeniertes Feindbild, eines, das sich über Jahrzehnte hielt.

Ein Gentleman in Moskau – Gefangen in der eigenen Geschichte

Für Graf Alexander Rostov beginnt der Albtraum nicht mit einem Pistolenschuss, sondern mit einem Richterspruch. Er soll den Rest seines Lebens im Metropol-Hotel verbringen – nicht als Gast, sondern als Gefangener. Was zunächst nach Luxus klingt, verwandelt sich bald in eine elegante Hölle.

Jede Ecke des Hotels ist ein Erinnerungsstück seiner Vergangenheit. Jeder Besucher ein Schatten seiner alten Welt. Die feinen Seidenvorhänge? Sie lassen ihn an die Aristokratie denken. Das gedämpfte Klirren der Kristallgläser? Die letzten Geräusche vor dem Umsturz. Doch das Bedrohlichste ist nicht die Einschränkung seines Raumes, sondern die Veränderung seines Inneren.

Paramount startet am 17.05.24 mit EIN GENTLEMAN IN MOSKAU, der  Verfilmung des internationalen Bestseller-Romans von Amor Towles und beschreibt: „Es handelt von Graf Alexander Rostov, gespielt vom Emmy®-Preisträger Ewan McGregor (Star Wars, Halston, Trainspotting), der nach der russischen Revolution feststellt, dass er aufgrund seiner Vergangenheit auf der falschen Seite der Geschichte steht. Von der sofortigen Hinrichtung verschont, wird er von einem sowjetischen Gericht in eine Dachkammer des luxuriösen Hotels Metropol verbannt und mit dem Tod bedroht, sollte er jemals wieder einen Fuß nach draußen setzen. Während die Jahre vergehen und sich einige der turbulentesten Jahrzehnte der russischen Geschichte vor den Türen des Hotels abspielen, verschaffen Rostovs eingeschränkte Lebensumstände ihm Zugang zu einer viel größeren Welt voller emotionalen Entdeckungen. Während er sich innerhalb der Mauern des Hotels ein neues Leben aufbaut, entdeckt er den wahren Wert von Freundschaft, Familie und Liebe“.

Russland war für mich, erlebt in Lesung, Film und Theater, nicht einfach nur ein unbekanntes Land

– es war eine Geschichte, ein Märchen, manchmal eine Drohung. Es war Schiwago und Bond, Lenin und Rostov. Es war Matroschka und Vodka, Schnee und Geheimnisse. Die Klischees haften, weil sie einfach funktionieren. Weil sie uns gefallen. Und am Ende? Was bleibt von dem Russland des Unterhaltungsfilms: eine Legende, die sich immer wieder selbst neu erzählt.

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