Du betrachtest gerade Sehnsucht nach Identität: Lydia Steier, Inszenierung „Tannhäuser“ Wiener Staatsoper

Die Göttin der Liebe, Venus, oder die Jungfrau, Elisabeth, für wen wird sich der Minnesänger Tannhäuser schlussendlich endscheiden? Abhängig davon ist auch, in welcher Welt und in welcher Gesellschaft er eigentlich leben möchte. Die Regisseurin Lydia Steier, die wir im UniWehrsEL schon bei Tschaikowkys „Iolante“ und „Aida in der Puppenhölle“ besprochen haben, liefert auch bei der Neuproduktion von Richard Wagners Tannhäuser an der Wiener Staatsoper genügend Stoff zum Nachdenken. Klar, dass I. Burn, der Opernkenner im UniWehrsEL sich die Sache näher angesehen hat. Herzlichen Dank!

Liebe Leser des Blogs UniWehrsEL,

die Inszenierung von Richard Wagners „Tannhäuser“ an der Wiener Staatsoper unter der Regie von Lydia Steier, die im Mai 2025 gestreamt wurde, bietet eine faszinierende und vielschichtige Auseinandersetzung mit den zentralen Themen des Werkes. Die Eröffnungsszene im Venusberg ist ein opulentes Fest der Sinne, das an das Musical „Cabaret“ von Joe Masteroff erinnert. Die Venusparty findet quasi in einem Varietéambiente der Weimarer Republik statt, ein Ort, an dem die Grenzen zwischen Lust und Kunst verschwimmen. Am Venusberg wird die Sinnlichkeit in all ihren Facetten zelebriert, und die Atmosphäre ist von einer berauschenden Exzentrik geprägt.

Die Ekstase des Venusbergs ein Varieté?

In diesem Szenario tanzen leicht bekleidete Menschen eng umschlungen, in einem Spiel aus rotem, grünem und braunem Licht, das die Atmosphäre einer berauschenden Feierlichkeit schafft. Die Musik pulsiert und ist eruptiv, ein wenig verrucht – ein wahrhaft orgiastisches Erlebnis, das den Zuschauer in seinen Bann zieht. Doch hinter dieser sinnlichen Fassade verbirgt sich eine tiefere, existenzielle Frage: Wie lange kann man sich in solch einem Rausch verlieren, bevor die Sehnsucht nach Bodenhaftung und Normalität überhandnimmt?

Tannhäusers innere Zerrissenheit zwischen der ekstatischen Welt der Venus und der ernsthaften Sphäre der Wartburg wird von Steier eindrucksvoll ausgearbeitet. Der Venusberg, mit seinen überladenen, erotischen Bildern, evoziert eine Atmosphäre des Überflusses und der Exzesse. Die Menschen hier scheinen in einem Zustand der Überdrüssigkeit gefangen zu sein, als ob das schönste Spektakel irgendwann schal wird, wenn man es zu sehr genossen hat. Tannhäuser selbst ist ein Symbol für diese innere Unruhe; er sehnt sich nach einer Rückkehr zur Normalität, nach einem Leben jenseits der Ausschweifungen.

Die Wartburg – ein Schauplatz der Doppelmoral?

Im Kontrast dazu steht die Wartburg im zweiten Aufzug, die in einem klassizistischen Stil der späten 1930er Jahre inszeniert wird. Im zweiten Akt hingegen sind die Minnesänger rund um Landgraf Hermann eindeutig stramme Jägersleute der späten 1930er-Jahre, auch wenn hier weder Naziuniformen noch Hakenkreuze auftauchen. Diese subtile Anspielung auf die Zeitgeschichte verstärkt das Gefühl einer Gesellschaft, die sich in einem Spannungsfeld zwischen Tradition und aufkommendem Totalitarismus bewegt.

Auf der Wartburg wird der Sängerkrieg auf einer Showbühne ausgetragen, was die Ernsthaftigkeit des Konflikts in Frage stellt. Die Sänger tragen mittelalterliche Kostüme, während der Chor in eleganten Abendanzügen im Hintergrund sitzt, was die Kluft zwischen der Realität und der Theaterwelt verdeutlicht. Die verwundeten Gesichter einiger Männer deuten auf die Narben des Ersten Weltkriegs hin und verstärken das Gefühl einer kranken Gesellschaft, die sich hinter einer Fassade der Eleganz versteckt. Der Skandal, den Tannhäuser mit seiner Offenbarung über die fleischlichen Lust auslöst, scheint bereits vorprogrammiert, da die Gesellschaft in ihrer Doppelmoral gefangen ist.

Die psychologische Wirkung von Tannhäusers Geständnis, auf dem Venusberg gewesen zu sein, entfaltet sich in der Empörung der Anwesenden. Warum diese Aufregung? Es ist die Angst vor der Konfrontation mit den eigenen Begierden und der eigenen Heuchelei. Tannhäusers Rückkehr aus der Welt der Lust konfrontiert die Gäste mit ihrer eigenen inneren Zerrissenheit und dem Verfall ihrer Werte. Während des Wettsingens halluziniert Tannhäuser ständig Venustänzerinnen herbei, was seine innere Zerrissenheit unterstreicht.

Die Inszenierung zeigt, dass die Gesellschaft nicht nur krank ist, sondern auch in einem Zustand der Verdrängung lebt, in dem sexuelle Ausschweifungen zwar nicht öffentlich thematisiert werden dürfen, aber dennoch im Verborgenen stattfinden. Denn der Chor ist nicht nur durch den 1. Weltkrieg gekennzeichnet, sondern auch durch die Ausschweifungen, so kann der Verfall der Körper eine Anspielung auf die Krankheit Syphilis sein.

Digitale Entfremdung des Tannhäusers?

Im dritten Aufzug erinnern die Figuren an digitale Zombies auf die ein desillusionierter Tannhäuser trifft. Die Zombies starren regungslos auf Bildschirme und nehmen die Außenwelt nicht mehr wahr. Diese Darstellung der modernen Entfremdung ist eindringlich und lässt den Zuschauer über die Auswirkungen der digitalen Kultur auf das menschliche Miteinander nachdenken.

Räumlich blicken die Zuschauer hinter die Kulissen der Bühne: alles wirkt düster und schmucklos. Zu sehen ist ein fragmentarisches Marienbild. Die Fragmentierung des Marienbildes kann als Metapher für die Zerrissenheit der menschlichen Seele interpretiert werden, die zwischen den Wünschen nach irdischer Lust und dem Streben nach höherer, geistiger Wahrheit hin- und hergerissen ist. Es kann aber auch als den Verlust nach dem Lebenssinn gedeutet werden. Wolfram, der Minnesänger, träumt sich weg. Während er „O du, mein holder Abendstern“ singt, erscheint ihm jedoch nicht Elisabeth, sondern Tannhäuser, der dann auch für einen finalen Männerkuss auftaucht. Diese unerwartete Wendung lässt Raum für Interpretationen über Liebe, Verlust und die Suche nach Identität nachzudenken.

Danach steuert die Regie langsam den Gipfel des Surrealen an. Elisabeth wird tot vorbeigetragen, ein Bild des endgültigen Verlustes und der Trauer. Doch kurze Zeit später schreitet sie als Auferstandene die Treppe herab, wie aus einer anderen Sphäre kommend. Paraelle versucht Tannhäuser noch ein letztes Mal zurück auf den Venusberg und zu den Tänzern zu gelangen. Dies bleibt ihm verwehrt und so stirbt er. Das Schlussbild erinnert an Adam und Eva im Paradies. Tannhäuser und Elisabeth sind endgültig wiedervereint.

Danke für den Beitrag, den Sie gerne kommentieren können, und auch dank an Pixabay für das Image der Bilder.

  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:2. August 2025
  • Lesedauer:8 min Lesezeit