Aktuell wird an der Oper Frankfurt wieder einmal die „Aida“ gegeben. Was verbindet eine Opernfreundin, wenn man mit ihr über Verdis Aida spricht? Da fallen bestimmte Schlagwörter wie Ägypten, Eröffnung des Suezkanals 1869, Pyramiden und ähnliches. Eine interessante Deutung der Frankfurter “Aida“ von Lydia Steier liefert uns eine „Opernfanin“. Es geht ihr um die Arbeitsbedingungen in Gefangenschaft. In Aida zeigt sich das Beispiel anhand der Bedingungen von Herrscherin Amneris und ihren Slavinnen, in einem nachgestellten Puppenhaus. Die Puppenfabrik der Amneris kann als Zeitkritik und Parodie auf den Arbeitsalltag von Menschen angesehen werden. Sie fabrizieren Arbeit unter einer ständigen Kontrolle und Überwachung der Produktionsprozesse. Sie müssen eine Null-Fehler-Strategie leisten. Weiter gefragt: Wie entmenschlicht der (ägyptische) Machtapparat seine (Kriegs-)Gefangenen?
Liebe UniWehrsEL-Leser,
Aida ist eine (Kriegs-)Gefangene der Ägypter. Immerhin eine äthiopische Königstochter; im Status der Sklavin. Aida ist die Sklavin von Amneris. Sie ist die Tochter des Königs von Ägypten. Die Kriegsgefangene Aida wird also in eine, ihr unliebsame, Rolle gedrängt und in eine missliche Lage versetzt. In der Frankfurter Inszenierung hat die Regisseurin Lydia Steier den ägyptischen Palast in ein Puppenhaus verwandelt. Diesen Ansatz will der Rezensent nun genauer untersuchen. Ein Puppenhaus ist ein Miniaturhaus, welches oft von Kindern als Spielzeug genutzt wird. Es ist eine detailgetreue Nachbildung eines Hauses oder einer Wohnung, komplett mit Möbeln und manchmal auch mit kleinen Figuren ausgestattet.
Warum hat Amneris sich einen Palast in Form eines Puppenhauses eingerichtet? Puppen und Puppenhäuser spielen in vielen Inszenierungen eine Rolle, so etwa bei Ibsens „Nora„. Sie sind Seelenverwandte, anthropomorphe Wesen oder man kann sie auch wunderbar unter einen Glassturz setzen.
Bietet das Puppenhaus Amneris eine Plattform, um ihre eigene Kreativität und Fantasie auszuleben? Tut Amneris dies, indem sie sich Räume gestaltet und Szenen aus dem Alltagsleben für sich nachgestalten lässt? Für viele Menschen sind Puppenhäuser Sammelobjekte. Sammelt also die Tochter des Pharaos handwerklich schön gefertigte Dinge? Gerade reiche Menschen umgeben sich gerne mit Gegenständen, die sie als besonders ästhetisch empfinden.
Amneris Puppenhaus besteht aus Puppenköpfen. Warum sind Puppenköpfe für Amneris wichtig? Puppenköpfe sind in der Regel aus Materialien wie Porzellan, Plastik oder Stoff gefertigt. Die Köpfe sind ein wesentlicher Bestandteil von Puppen und können sehr detailliert gestaltet sein, um realistische oder künstlerische Darstellungen zu bieten. Puppenköpfe werden häufig bei der Herstellung von Spielzeugpuppen verwendet. Folglich geht es Amneris bei der Gestaltung ihres Palastes auch ein Stück weit um Kunst als Selbstverwirklichung. Sie erschafft mit Hilfe der Dienerinnen Sammlerstücke und verwendet die Puppenköpfe als künstlerische Objekte.
Das Bild von der Puppenstube zeigt zudem die Allmacht und Selbstständigkeitsbestrebungen der Tochter des Pharos. Sie kann sich individuell ein, aus ihrer Sicht gemütliches. Heim in Form eines Puppenhauses gestalten. Sie bestimmt selbst darüber wie ihre Umgebung gestaltet ist. Selbst ihr Vater der mächtige Pharao mischt sich in die Gestaltung des Palastes nicht ein. Er lässt ihr freie Hand.
In der Szene in Amneris Puppenpalast lässt sie die Dienerinnen die Puppenköpfe frisieren, dies geschieht genau nach ihren Anweisungen und verleiht ihr Macht und Möglichkeit, die eigene Kreativität auszuleben. Sie lässt für die Köpfe verschiedene Frisuren ausprobieren. Damit kreiert Amneris Rollenspiele und Szenarien, die in ihrem Kopf entstanden sind. Sie wird zu einer Regisseurin und zur obersten Stylistin in ihrer Puppenwelt. Sie setzt Modetrends selbst. Durch das Frisieren der Puppen unter Anweisung lernt Amneris, sich um etwas zu kümmern – nämlich ihr Puppenreich – und Verantwortung für die Dienerinnen zu übernehmen. Sie erfährt dabei auch, wie wichtig Haare für das eigene Körperbild ist.
Wie der Zuschauer feststellt, ist Amneris in Wirklichkeit kahlköpfig. Sie lässt also die Perücken für sich selbst anfertigen. Die Perücke ermöglicht Amneris, ihren Look und Style schnell und einfach zu verändern. Der Haarausfall könnte andeuten, Amneris stehe unter einer medizinischen Behandlung wie z.B. einer Chemotherapie oder litte an einer Erkrankung wie Alopecia. Damit würde Amneris die Perücke nutzen, um ihr eigenes Selbstbewusstsein zu stärken.
Eine andere Deutung wäre: In Ägypten, wo die Handlung ursprünglich spielt, tragen einige Frauen Perücken aus traditionellen Gründen. Dies kann mit kulturellen Praktiken oder religiösen Überzeugungen zusammenhängen. In Ägypten waren Perücken weit verbreitet. Die Perücke der Herrscherin zeigte ihren Status. Mit der Perücke betont Amneris ihre herausgehobene Stellung in der ägyptischen Gesellschaft. Sie wählt ihre Perücke aufgrund eines besonderen Anlasses aus. Der Siegesfeier von Radames über die Feinde von Ägypten. Er hat den Sieg errungen.
Amneris Puppenstube ist wie eine Fabrik aufgebaut. Amneris fungiert als ein Inspektor der Qualitätskontrolle. Sie überwacht mit genauem Blick die Produktion der Frisuren. Dabei versucht Amneris, Abweichungen von der Qualität frühzeitig zu erkennen und zu korrigieren. Sie testet jede gefertigte Perücke, um sicherzustellen, dass sie den von ihr festgelegten Qualitätskriterien entspricht. Doch nicht nur über die Qualität der Perücken wacht Amneris eisern, sondern auch über die Sklaven, wie Aida eine ist. Die Kontrolle ihrer Arbeiter/Sklaven in ihrer Puppenfabrik erfolgt auf verschiedene Weise. Amneris bewertet die Arbeitsleistung der Arbeiter regelmäßig. Die Arbeitssklaven tragen eine spezielle Kleidung. Ein rosafarbenes Kleid mit einer weißen Schürze. Dazu einen schwarzen gebundenen Schlips mit schwarzen festen Schuhen.
Diese Arbeitskleidung ist für die Fertigung der Puppenköpfe von Amneris speziell konzipiert. Die Arbeiter werden wie „lebende“ Puppen gekleidet. Der Puppenstil ist eine ästhetische Entscheidung von Amneris, der Puppenlook ein Ausdruck der Individualität.
Bei den Arbeitern ist es das Gegenteil. Der von Amneris angeordnete Puppenstyle hat negative Folgen für die Arbeitssklaven. Sie sind von psychologischen Auswirkungen betroffen. Die Arbeitskleidung sorgt für ein einheitliches Aussehen. Die Menschen verschwinden hinter dem Puppenkostüm. Die Arbeitskleidung erhöht den Druck, einem bestimmten Aussehen entsprechen zu müssen. Die Arbeitskleidung fördert Amneris unrealistisches Schönheitsideal. Die Arbeitskleidung beeinträchtigt das Selbstwerkgefühl der Arbeiter und sorgt auch für ein verzerrtes Körperbild bei den Frauen.
In einem Moment zeigt Amneris ihren Hang zur Perfektion. Sie versucht als Inspektor das Erreichen eines optimalen Zustands, indem alle Produktionsprozesse effizient, fehlerfrei und kosteneffektiv ablaufen. Wenn ein Fehler auftritt wird der Arbeiter bestraft. Die Arbeiter sind alles Frauen. Sie haben sich Amneris unterzuordnen. Für einen Fehler bei der Herstellung werden die Arbeiter von Amneris geschlagen. Als ein Arbeiter vor Angst zitternd einen Fehler macht, bekommt er Amneris Wut zu spüren. Diese Wut drückt Amneris über die fehlerhafte Fertigung aus. Sie zeigt ihren Ärger und ihre Enttäuschung über das misslungene ‚Frisurstück‘.
In ihrer Wut wird Amneris unkontrolliert. Das ist das Gegenteil ihrer sonst so auf Effizienz getrimmten Puppenwelt. Sie erschlägt den Arbeiter aus Wut, weil die Frisur des Puppenkopfs zerstört worden ist. Für diese Fehlleistung muss der Arbeiter mit dem Tod bestraft werden. Diese Szene zeigt, wie sehr Amneris es liebt, die absolute Kontrolle über andere Menschen auszuüben. Amneris Anspruch auf Perfektion führt bei den Arbeitern zu hohem Leistungsdruck. Mit ihren unrealistischen Erwartungen an die Arbeiter sorgt Amneris für eine negative Arbeitsatmosphäre. Der überhöhte Fokus auf Perfektion führt dazu, dass die Arbeiter weniger kreativ sind und sich strikt nur auf die Vorgaben konzentrieren. Dies führt zu starren Prozessen in der Fertigung der Perücken, die es den Arbeitern erschweren, auf unvorhergesehene Probleme oder Änderungen im Produktionsablauf zu reagieren. Amneris schafft, indem sie ihre Vision einer für sie perfekten Arbeitsumgebung umsetzt, eine Hölle für die Arbeitssklaven.
Dies versucht Amneris nicht nur in ihrem Puppenpalast, sondern auch in der Beziehung zu Radames, dem von ihr verehrten Feldheeren. Dass Radames sich in eine ihrer Puppenarbeiter verliebt, ist für Amneris unvorstellbar. Die Puppenarbeiter sind für sie austauschbare Menschen, ein Werkzeug, um maximale Produktivität zu erreichen. Dass Radames sein Volk, die Ägypter, für eine Puppenarbeiterin verrät, stürzt Amneris nicht in eine Sinnkrise, sondern lässt sie starke Schmerzmittel durch ihren Arzt Ramfis einnehmen. In anderen Produktionen ist Ramfis der Oberpriester der Ägypter, der der Tochter des Pharaos mit Religion und Spiritualität beisteht. In Frankfurt ist Ramfis ein Arzt, der die Schmerzen der kranken Amneris mit einem Betäubungsmittel lindert.
Über einen Kommentar freut sich eine Opernfanin
Danke für das Bild auf Pixabay, das Assoziationen zu „puppet on a string“ (Sandie Shaw, 1967)weckt.