Du betrachtest gerade Rausch und Vergänglichkeit – der Karneval als Phase der Liminalität

In unserem Seminar „Exzesse, Ekstase, Askese“ fragten wir danach, warum Menschen eigentlich den Karneval brauchen. Wir fanden die Antwort, kein anderes Fest befriedige so zahlreiche und widersprüchliche Sehnsüchte wie der Karneval. Der deutsche Pädagoge Wolfgang Oelsner legte schon 2007 ein farbiges und bebildertes Resumée aus seiner jahrzehntelanger Forschungs- und Feierpraxis vor. Er sieht den Karneval als „Fest der Sehnsüchte“. In der Diskussion im Deutschlandfunk mit der Soziologin Yvonne Niekrenz geht es um die Frage, ob der Karneval die Rollenbilder weiblich und männlich verändere. Niekrenz wurde nicht zuletzt bekannt durch ihre Studie „Rauschhafte Vergemeinschaftungen“.

Für Wolfgang Oelsner wird beim Karneval zwar die Befreiung aus dem Alltag gefeiert, aber auch er zeige im Grunde die alltäglichen Sehnsüchte des Menschen auf, die endlich einmal ausgelebt werden könnten: Ausgelassenheit, Anarchie, Erotik, Rausch und Grenzüberschreitung. Für Ivonne Niekrenz dominieren im Karneval die alten Rollenbilder, selbst im Straßenkarneval herrschen die klassischen Geschlechterrollen vor, Frauen bedienten sich nur der männlichen Verhaltensmuster.

Weiter gedacht versteht sie den rheinischen Karneval als „chaotische Ordnung“, mit einer räumlichen und zeitlichen Begrenzung. Straßenkarneval beschreibt Niekrenz als „Rites de Passage“, als Phase der Liminalität.

Dahinter verbirgt sich das Konzept der Übergangsriten. 1909 (deutsch 1986) definierte der Volkskundler und Ethnologen Arnold Van Gennep, Übergangsriten seien immer mit Änderungen verbunden. Beispiele sind der Übergang von einem Lebensalter zum nächsten oder auch der Berufs- und Ortswechsel.  Er nennt zudem Jahreszeitenwechsel und die Kalenderzyklen, die mit Bräuchen und Festen verbunden sind. Von der „Wiege bis zur Bahre“ prägen die verschiedenen Lebenszyklen wie Geburt, Pubertät, Ehezeit und Sterben unser Leben.

Van Gennep beschreibt, dass „Passageriten“ den Status eines Menschen verändern. Sie beginnen mit der Trennung von der alltäglichen Umgebung, dem Separationsritus. Es folgt eine Phase der Isolierung, die Seklusion, an die sich nach mehr oder weniger langer Zeit schließlich die Wiedereinführung in den Alltag und die Gesellschaft anschließt.

Der Religionsethnologe Viktor Turner (1920-1983) folgt van Genneps Modell und erkennt drei Phasen in Ritualen. Besonders wendet er sich der mittleren Phase zu, die er als „liminal“ bezeichnet. Sie liegt gleichsam zwischen den Zeiten. Wer einen „Passageritus“ durchläuft, ist dann nicht mehr die Person, die er oder sie früher war, aber auch noch nicht die Person, die er oder sie später, nach Abschluss des Ritus sein wird.

„Rites de Passage“ ist verbunden mit dem Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt. Dabei wird das alte Ich abgestreift und ein neues angelegt, es ist eine Metamorphose, aus der es kein  Zurück mehr gibt. Aber passt das auch auf den Karneval? Was verändert sich nach dem Karneval für den Menschen?

Niekrenz betont die Besonderheit dieser Phase, in der gesellschaftliche Ordnungen aufgelöst werden. Der Mensch löst sich aus dem Alltag. Er erlebt im Karneval ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl, verändert seine Emotionskontrolle wie sein soziales Handeln, lässt alltägliche Konventionen hinter sich lässt. Die Karnevalisten erleben die berauschende Wirkung von bestimmten Substanzen. Musik, Lichteffekte, Bewegung tun ein Übriges. Sie führen zu einer veränderten Wahrnehmung von Raum-Zeit-Bezügen und damit auch zu neuen Körpererfahrungen.

In der Außeralltäglichkeit führen Rausch und Exzess zu einer Loslösung vom Alltag und einem kurzzeitig geänderten Bewusstseinsstrom. Aber ist man nach dem Karneval wirklich verwandelt?

So wie man nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen kann, so gibt es auch im Leben nie ein vollkommenes Zurück, so definiert es Niekrenz philosophisch. Karneval habe in diesem Sinne eine erneuernde Wirkung, beträfe sowohl das Wir-Gefühl als auch die individuelle Ebene. Mit dem Ritual der „Nubbelverbrennung“ in der Nacht zum Aschermittwoch werden Ende und zugleich Neuanfang angedeutet: „Nächstes Jahr ersteht er wieder auf. Mit der Verbrennung dieser Strohpuppe verschwinden alle Sünden, die zur Karnevalszeit begangen wurden. Das ist auch ein Mechanismus individueller Existenzbewältigung.

Karneval hat die Funktion die eigene irrationale und affektive Seite ausleben zu können. Niekrenz verwendet die Metapher des „Dampfablassens“ oder „Reinigens“ als „Psychohygiene“, in der ein „Jecker“ sich gleichzeitig erschöpft und befreit fühlt. Der Körper spielt eine große Rolle im Karneval. Mit der Kostümierung als „Eintrittskarte“, dem Kostümzwang, der gleichzeitig Zwang zur Uniformität bedeutet, verändern sich Fremd- und Eigenwahrnehmung. Alkohol enthemmt, man kommt sich näher, hakt sich unter schunkelt, vereint sich. Gleichzeitig geht das Erleben im Hier und Jetzt bei solchen Festen, wie auch beim „Münchner Oktoberfest“ (vgl. Veiz, 2007), implizit auch mit dem besonders Vanitas-Gedanken einher – „so jung kommen wir nicht mehr zusammen“ oder „wenn nicht jetzt, wann dann.“

Zu Vanitas-Gedanken forscht man auch in Hamburg: „Hat die Verbreitung von Drogen und häufig tödlich endenden Krankheiten wie Aids und Krebs oder die Zerstörung der natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens die eigene Endlichkeit wieder so stark ins Bewusstsein gerufen, dass eine traditionell mittels des Vanitas-Motivs beklagte Vergeblichkeit und Fehlorientierung des viel zu schnell verrinnenden Lebens wieder virulent wird?“

Das Wissen, um das Ende schwingt bei allen Festivitäten mit. Rausch und Ekstase brauchen räumliche und zeitliche Begrenzung. Das macht sie zu „Enklaven des Außeralltäglichen“, genau wie bei Festivals oder auch Silvesterfeierlichkeiten. Ihnen liegen Voraussetzung zugrunde wie positive bis euphorische Gestimmtheit, Ausgelassenheit, Freigebigkeit, die Ablösung von Nützlichkeitszwängen und das Bedürfnis nach kollektiver Erregung oder Verausgabung. Merkmal dafür seien, so Niekrenz, der außeralltägliche Anlass, zu denen auch die zyklische Zeiterfahrung des Alltags verlassen werde.

Speziell für Silvester bedeutet dies Bilanz zu ziehen, „das Alte“ Revue passieren zu lassen, sich bewusst werden, etwas „Neues“ beginnt. Zeit wird linear erfahren, man weiß, ein Stück Lebenszeit ist vorüber, ich bin wieder ein Jahr älter geworden.