Du betrachtest gerade Teil 1: Todessehnsucht: Suizid und Suizidpräventionsmöglichkeiten – ein Beitrag von Heiner Schwens

Heiner Schwens hat sich in unserem Seminar zur „Sehnsucht“ eingehend mit der Todessehnsucht beschäftigt. Hier ein Ausschnitt aus seinen aufwändigen Recherchen, mit bestem Dank! Sein Ergebnis: In allen Zeiten und Gesellschaften gab es Suizidereignisse. Suizide scheinen genauso dazu zugehören wie Geburt, Tod, Krankheit oder Unfall. Suizidalität als Befindlichkeit steht neben anderen menschlichen Befindlichkeiten wie Hunger, Erschöpfung, Verliebtsein oder Depressivität, denen sich der Betroffene kaum oder überhaupt nicht willentlich entziehen kann. Suizidhandlungen sind eingebettet in ein komplexes Verursachungsgefüge aus sozialen, psychologischen, biographischen und auch medizinischen Faktoren.

Kein Verhalten hat im Verlauf der Menschheitsgeschichte eine derart unterschiedliche Bewertung erfahren wie suizidales Denken und Handeln. Die Bewertung reicht von Suizidalität als Ausdruck größter Freiheit bis zu Suizidalität als Ausdruck größter Einengung durch psychische Erkrankung, von Selbsttötung als ’sittlich hochstehende Tat‘ bis zu verwerflich, sündhaft und schuldhaft.

Wissenschaftliche Ergebnisse haben gezeigt, dass in bestimmten Bereichen und Grenzen Prävention und Therapie bei Suizidgefährdung durchaus möglich sind. Selbst die Therapie aktueller Suizidalität ist möglich, wie beispielsweise in akuten psychosozialen Krisen. Wichtig ist zusätzlich, dass, trotz Entwicklung und Benennung von Möglichkeiten der Prävention und Therapie suizidaler Gefährdung, der individuelle Freiheitsgrad des Menschen niemals angetastet werden darf.

Hiervon gibt es allerdings Ausnahmen: „Wenn eine Uneinsichtigkeit der kranken Person mit Gefährdung der Öffentlichkeit einhergeht oder Zwang angewendet werden muss, um den psychisch Kranken vor sich selbst oder Dritten gegenüber zu schützen“, dann ist der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte nach § 1906 BGB möglich.

Zum Begriff des Suizids

Thomas Bronisch beschreibt zu suizidalen Verhaltensweisen in „Neurobiologie von suizidalem Verhalten und Aggression, S. 58-79“): „Der Suizid setzt Selbstreflexion voraus, d. h. das Individuum muss zwischen seinem beobachtenden und seinem erlebenden Ich unterscheiden können. Im Gegensatz zum Tierreich zeichnet den Menschen eine solche Fähigkeit aus. Die Tatsache, dass suizidales Handeln also eine gemeinhin menschliche Eigenschaft zu sein scheint legt nahe, den topographisch-anatomischen Ort für ein solches Verhalten in den phylogenetisch (stammesgeschichtliche Entwicklung) jüngsten Bereichen des Gehirns anzusiedeln, nämlich dem Stirnhirn und hier wiederum im sog. präfrontalen Cortex“.

Einfacher, jedoch ebenso präzise ist die Definition von suizidaler Verhaltensweise nach Erwin Stengel (1970) Attempted suicide in British journal of Psychiatry:

„Die Suizidhandlung ist eine auf einen kurzen Zeitraum begrenzte absichtliche Selbstbeschädigung, von der der Betreffende, der die Handlung begeht, nicht wissen konnte, ob er sie überleben wird oder nicht“.

Juristische Wertung des Suizids

Bis heute stehen Suizid und Suizidbeihilfe im Kraftfeld unterschiedlicher weltanschaulicher und politischer Bewertungen. Generell ist in Deutschland der Suizid straffrei. Auch Versuch, Anstiftung oder Beihilfe zur Selbsttötung wird nicht geahndet. Dies gilt auch für die Beihilfe zum Suizid, wenn der Sterbewillige freiverantwortlich und eigenhändig den Tod herbeiführen kann; man bezeichnet dies auch als Tatherrschaft.

Mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 3 Jahren wird jedoch die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung bestraft. Laut §323c StGB sind Personen, die aufgrund ihrer Garantenstellung (Pflicht einer Person, für die Abwendung eines bestimmten Erfolges zu sorgen, der eine Straftat nach sich zieht) zur Verhinderung des Suizids verpflichtet sind, bei Verletzung dieser Pflicht zu bestrafen.

Ärzte und Angehörige medizinischer Dienste müssen erste Hilfe leisten, wenn Patienten bereits Suizidhandlungen vorgenommen haben.

Ethische Wertung des Suizids

Der Suizid wird moralisch abgelehnt, weil er dem Sinn des Lebens widerspricht, im christlichen Sinn das Leben von Gott geschenkt wurde und es nur durch ihn beendet werden kann (christliches Tötungsverbot); es „die sozialethische Verpflichtung des Menschen gibt, sich nicht seiner Verantwortung für die Gemeinschaft zu entziehen“. Aber es gibt auch Befürworter des Suizids (nach H. Wedler, 2008); sie möchten selbst über ihren Todeszeitpunkt bestimmen (freie Selbstbestimmung), sehen ansonsten ihre menschliche Würde missachtet, verstehen ein Glückstreben im Suizid und fordern Gelassenheit gegenüber dem freigewählten Tod.

Ein Exkurs zum „freien Willen“: Am Beispiel der freien Selbstbestimmung entzündet sich heute die Kontroverse zwischen den Neurowissenschaften und der analytischen Philosophie;Thema; „Kann es den freien Willen überhaupt geben“? Aus der Sicht der Bewusstseinspsychologie kann dem Menschen die Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln nicht abgesprochen werden. Nach Meinung führender Neurowissenschaftler ist der Mensch nicht frei in seinen Entscheidungen, sondern von seinen Gehirnfunktionen präformiert (vgl. Prof. Dr. N. Erlemeier, Prof. Dr. H. Wedler in socialnet.de, Lexikon, veröffentlicht 27.10.2017).

Synonyme zum Suizid können sein: Selbsttötung, Freitod, Selbstmord. Begriffe, die Formen suizidalen Erlebens beinhalten, sind die Suizidideen, mit dem Nachdenken über den Tod im Allgemeinen und dem eigenen Tod und Todeswunsch. Es handelt sich also um die direkte Vorstellung vom eigenen Suizid. Die Suizidversuche umfassen Suizidhandlungen, die tödlich oder nicht tödlich sind. Beide Formen können nicht immer streng getrennt werden. So werden Suizide, die nicht tödlich enden, den Suizidversuchen zugerechnet und Suizidversuche mit tödlichem Ausgang den Suiziden (nähers zum Begriff der Suizidalität findet man bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe).

Epidemiologie – Ich beschränke mich bei meinen Ausführungen auf die Bundesrepublik Deutschland. Das Statistische Bundesamt veröffentlicht jährlich in der Todesursachenstatistik die Zahlen zur „vorsätzlichen Selbstbeschädigung“ (Suizid) und zwar in absoluten Zahlen und als Suizidziffern, die die Anzahl der Suizide pro 100.000 Personen in der Bevölkerung ausweisen. Generell wird festgestellt, dass Suizide in unterschiedlicher Form und Häufigkeit vorkommen. Es muss allerdings beachtet werden, dass Suizidversuche wesentlich häufiger vorkommen und der stärkste Risikofaktor für vollendete Suizide sind. Jeder Suizid belastet mindestens sechs andere Personen im Umkreis des Verstorbenen. Sie bleiben oft mit Ratlosigkeit, Schuld- und Schamgefühlen zurück.

Berücksichtigt werden muss auch die „Dunkelzifferproblematik“ bei der Erfassung von Suizidhandlungen, da mancher Suizid als „unklare Todesursache“ oder „natürlicher Todesfall“ auf dem Totenschein erscheint. Die Dunkelziffer zusätzlicher Suizide wird auf mindestens 10% geschätzt, bei Suizidversuchen dürfte sie noch höher liegen. Suizidversuche werden oft unterschätzt und übersehen und stellen deshalb ein generelles Gesundheitsproblem dar.

Statistiken zur Suizidhäufigkeit (Todesursachenstatistik vom Statistischen Bundesamt), zu Geschlechts- und Altersgruppen vor, stellen keine verlässlichen Zahlen dar, weil es kein amtliches Register über Suizidversuche, Suizidgedanken und „verdeckte“ Suizide gibt. Hier finden Sie Statistiken von 2023.

In Deutschland starben 2023 durch suizidale Handlungen 10304 Menschen. Davon waren 7478 Männer und 2826 Frauen. Insgesamt begehen Männer dreimal soviel Suizide wie Frauen. Die Anzahl der Suizide ist dreimal höher als die von Verkehrstoten.

Höhere Altersgruppen sind von tödlichen Suizidhandlungen besonders betroffen (alte Männer), jüngere neigen stärker zu Selbstverletzungen und Suizidversuchen.

Der Verlauf der Suizide über alle Altersgruppen sowohl in Deutschland als auch in anderen westlichen Ländern folgt dem sog. „ungarischen Muster“, was bedeutet dies? Die Suizidziffern steigen mit dem Alter stetig an und haben ihren Gipfelpunkt in den hohen Altersgruppen üblicherweise ab 75 Jahren. Es bestätigt sich die Aussage: „Der Suizid trägt die Handschrift des Alters“.

Dieser Beitrag wird in einem 2. Teil fortgesetzt! Danke für das Foto, das bei den Recherchen entstanden ist, bei Heiner Schwens!