Nicola Gess schreibt in „Staunen. Eine Poetik“ (unserem Mittwochsseminar an der U3L): „Doch STAUNEN auf den sogenannten WOW-Effekt zu beschränken, greift zu kurz. Staunen ist vielmehr immer schon, ……, dreidimensional konzipiert: Nicht nur sinnlich, sondern auch spirituell und vor allen Dingen kognitiv. Staunen wird nicht nur als eine spontane Reaktion auf eine Affizierung, sondern ebenso als eine kognitive und imaginäre Aktivität verstanden, die sich an der Bestimmung und an der Bedeutung eines ästhetischen Objekts abarbeitet und sich unter u. a. durch eine (selbst) reflexive Distanznahme auszeichnet“. Für Nicola Gees ist Staunen nicht nur kurz und einmalig, „es kann vielmehr andauern und wiederholbar sein. Staunen befördert nicht nur das Wohlgefühl, sondern ist auch mit Gefühlen der Verunsicherung, der Unlust und sogar der Bedrohung verbunden“.
Nicht wenige Ausführungen zum Staunen (Nicola Gees) sind auch auf das Fotografieren übertragbar.
STAUNEN HEISST: DIE LUFT ANHALTEN VOR LAUTER WOW (Foto: Heiner Schwens)
Das Wort „Fotografie“ kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet übersetzt soviel wie `Zeichnen mit Licht`. Im 21. Jahrhundert heißt es aber, Fotografie sei die Kunst, Wissenschaft und Praxis der Erzeugung dauerhafter Bilder durch Aufzeichnung von Licht oder anderer elektromagnetischer Strahlung. Zum Fotografieren benötigt man eine Technik, die mit Licht, Zeit und einem Speichermedium ein Foto entstehen lässt. Fotografie wird unter unterschiedlichen Aspekten betrachtet, nämlich unter dem Aspekt der Fototechnik, dann dem Aspekt der Fotowirtschaft (also unter ökonomischen Gesichtspunkten) und unter gesellschaftlich- sozialen Aspekten betrachtet, der Amateur-, Arbeiter- und Dokumentarfotografie.
Zeitstrahl zur Geschichte der Fotografie
Aristoteles (griechischer Philosoph 384 – 322 vor Christus) hatte schon in dieser Zeit entsprechende Werkzeuge zur Hand, um eine Lochkamera zu konstruieren, auch Kamera Obscura genannt.
4. Jh. v. Chr. Aristoteles tüftelt am optischen Prinzip der Camera obscura.
1000 – 1500 Die Camera obscura wird verbessert, aber alle Bilder verblassen noch.
1889 George Eastman kommerzialisiert den Rollfilm unter der Marke Kodak.
1925 Leica entwickelt die erste Kleinbildkamera mit einem 35mm Film.
1950 Die Farbfotografie wird für die breite Masse verfügbar.
1973 Der erste kommerzielle CCD-Sensor wird vorgestellt.
2003 Es werden erstmals mehr digitale als analoge Kameras verkauft
Der Maler Louis Mande Daguerre war so begeistert von dieser Errungenschaft, dass er Niépces Partner wurde. Er tüftelte weiter an der Technik und entwickelte ein Verfahren mit Kupferplatten und Quecksilberdämpfen, welche eine deutlich kürzere Belichtungszeit ermöglichte. Damit fand Daguerre 1839 mit der nach ihm benannten Daguerreotypie einen Weg, Fotografie erstmals kommerziell für Portraits zu nutzen. Hier begann die bahnbrechende Erfolgsgeschichte der Fotografie. Durch das von William Henry Fox Talbot 1841 entwickelte Negativ-Positiv-Verfahren, konnten nun Fotografen ihre Bilder durch Negativabzüge vervielfältigen. Bevor Fotografie zur eigenständigen Kunstgattung aufstieg, dominierte insbesondere Malerei die Kunstszene. Noch im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Fotografen von Künstlern als minderwertige Rivalen angesehen.
Quelle Foto Dario Schrittweise: Joseph Nicéphore Niépce und die erste Fotografie
Für Charles Baudelaire war der Kunstcharakter der Fotografie lange Zeit umstritten. Er erkannte die Konkurrenz innerhalb der Kunst: Der Portraitmaler stand nun dem Portraitfotografen gegenüber. Baudelaire kritisierte die Bestrebungen, die Natur zu kopieren, ohne ihr Wesen zu kennen. Diese Kritik manifestiert sich bis heute. Traditionell ließ man sich zu dieser Zeit von Malern portraitieren, die nun um ihre Daseinsberechtigung fürchteten. Dennoch integrierten die ersten Künstler Fotografie in ihren Arbeitsprozess (es gibt heute nicht wenig Künstler, die erst das Motiv fotografieren, bevor sie es zu malen beginnen).
Laut Walter Benjamin (Dt. Philosoph, Kulturkritiker, Übersetzer 1892 – 1940) brachte die Entstehung der Fotografie eine Erneuerung der künstlerischen Sprache und eine Intensivierung formaler Auseinandersetzungen mit sich: „Mit zunehmender Reichweite der Kommunikation nahm die informative Bedeutung der Malerei ab“. Das erste SELFIE der Geschichte nahm 1893 der amerikanische Lampenhersteller und Fotografie-Enthusiast Robert Cornelius auf, mit Hilfe der Daguerreotypie.
Georg Eastman konnte 1889 über den Stripping-Rollfilm mehrere Bilder nacheinander aufnehmen und brachte ihn unter seiner Marke „KODAK“ heraus. Nun waren also mehrere Schnappschüsse hintereinander möglich. 1925 entwickelte Oskar Barnack die erste Leica-Kamera, mit der Aufnahmen auf einem Kleinbildfilm von 35 mm möglich waren; damit waren die großen Boxkameras Geschichte. 1936 präsentierte KODAK mit Kodachrome und Agfa mit Agfacolor-neu die ersten Mehrschichtenfilme für eine Entwicklung in Farbe. Vorgängerin der heute weltweit renommierten und bedeutsamen Messe für Fotografie der Photokina.
„Der Kuss“ von Robert Doisneau wurde 1950 im amerikanischen Magazin LIFE veröffentlicht und gilt als das berühmteste Bild aller Zeiten.
Foto: Courtesy Atelier Robert Doisneau
Robert Doisneau „Der Kuss vor dem Hotel de Ville„, 1950
Am 24. Dezember 1968 hörten zirka eine Milliarde Menschen auf der Erde diese nachfolgenden ersten Worte der Bibel, vorgelesen in einer Live-Übertragung aus der Apollo-8-Raumkapsel. Die US-Astronauten William Anders, Jim Lovell und Frank Bormann hatte der Anblick der unmittelbar hinter der kargen Mondoberfläche aufgehenden Erde so tief berührt, dass sie ihre Live-Bilder aus dem All mit dem Verlesen von Genesis 1,1-9 untermalten. „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde war wüst und wirr und Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht.“
Ihre naturwissenschaftliche und technische Bildung hinderte sie nicht daran, einen Bibeltext zu zitieren, denn sie verstanden ihn als das, was er ist: Ein Lobgesang auf die Schöpfung (und kein naturwissenschaftlicher Bericht über die Entstehung der Welt). Ihr Wissen um die schier unendlichen Ausmaße des Alls vergrößerte ihr Staunen noch. Mit dem Foto eines bunten Stoffbandes ging der Physiker James Maxwell 1861 in die Geschichte ein. Er fotografierte ein Band jeweils mit einem roten, grünen und einem blauen Farbfilter, legte die drei Bilder übereinander – fertig war das erste Farbfoto.
Rund 25 Millionen Fotos werden jeden Tag auf die Internetplattform INSTAGRAM hochgeladen. Das sind laut Schätzungen etwa 200-mal so viele Bilder, wie im 19. Jahrhundert. Ein Bericht aus „Forschung und Technik“ beschreibt, was ich heute fotografiere, kann im Laufe der Geschichte eine andere Bedeutung bekommen. Frei nach Nicola Gess über das Staunen bedeutet dies, „dass jedes Bild seine Geschichte hat und immer wieder anders gesehen und beurteilt werden kann.
Manfred Kriegelstein widmet sich in seinem Buch „der Kunst des Sehens“, Titel: „Fotografie soll Verborgenes sichtbar machen“. Für ihn geht das Fotografische Sehen über den rein kognitiven Vorgang hinaus, es fordert die Aufmerksamkeit, Geduld und Konzentration des Fotografen, die die Besonderheiten, die Unscheinbarkeit seiner Umgebung zu erfassen, die Lichtsituation zu erkennen, um daraus eine Idee, eine Konzeption für eine Aufnahme zu entwickeln“. Kreativität ist also gefragt.
Sven Barnow spricht von „Achtsam fotografieren – durch Fotografie zur inneren Ruhe finden“.
Herzlichen Dank, lieber Heiner Schwens für den wunderbaren Beitrag, der im Teil II unter dem gleichen Titel fortgesetzt wird!