Im Interview mit dem Suhrkamp Verlag beantwortet Autor Mikołaj Łoziński Fragen zu seinem neuen Familienroman Stramer. Die Stramers leben mit sechs Kindern, einem Hund und einer Katze in einem einzelnen Zimmer in Tarnów in der Vorkriegszeit. Der heute in Warschau lebende Autor ist 1980 als Sohn des polnischen Dokumentarfilmers Marcel Lozinski geboren, studierte Soziologie an der Pariser Sorbonne, wohnte einige Zeit in Berlin, publizierte Kurzgeschichten in polnischen Literaturzeitschriften und hatte bereits einige Ausstellungen seiner fotografischen Arbeiten. Der Kulturbotschafter des UniWehrsEL besuchte im November 2024 das Deutsche Poleninstitut in Darmstadt, nahm an einer Lesung mit Mikolaj Lozinski teil und erzählt den UniWehrsEL-Lesern über seine Eindrücke, mit bestem Dank!
Liebes UniWehrsEL,
Das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt setzt sich für den kulturellen Austausch zwischen Polen und Deutschen ein. Es liegt sehr zentral in der Darmstädter Innenstadt und ist im Residenzschloss Darmstadt untergebracht. Regelmäßig werden auch kostenlose Ausstellungen über die Beziehung von Polen und Deutschland gezeigt. Bis 30. 11. 24 lief die Ausstellung „Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern“.
Die Ausstellung zeigte, dass nur einige tausend jüdische Kinder den Holocaust in Polen überlebt haben. Viele dieser Kinder fanden Schutz in polnischen Familien. Viele Polen übernahmen die Rolle der Eltern. Viele dieser Eltern hielten die Adoption geheim, manche enthüllten die Wahrheit den jüdischen Kindern erst kurz vor ihrem Tod. Manche nahmen dieses Wissen mit in den Tod. Viele jüdische Kinder haben die fremden Häuser für die eigenen gehalten. Später als Erwachsene haben sie sich mit ihren jüdischen Wurzeln auseinandergesetzt und nach ihrer Identität gesucht. Die Ausstellung zeigt 15 Schicksale und Biografien dieser jüdischen Kinder auf Tafeln. Die Kinder sind zwischen 1939 bis 1942 geboren.
Fokus der Ausstellung ist der Umgang der Kinder mit ihrer doppelten Familienidentität. Nach dem Dorsch Lexikon der Psychologie beschreibt das Wort Identität die Art und Weise, wie Menschen sich selbst aus ihrer biografischen Entwicklung (kurz Biografie) heraus, in der ständigen Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Umwelt, wahrnehmen und verstehen. Wichtige Bestimmungsstücke, die in die Konstitution der eigenen Identität eingehen, sind z.B. Geschlecht, Alter, soziale Herkunft, Ethnizität, Nationalität, Gruppenzugehörigkeit, Beruf und sozialer Status, aber auch persönliche Eigenschaften und Kompetenzen.
Im Rahmen der Ausstellung gab es eine Lesung über die Geschichte einer jüdischen Familie in Polen. Das Buch heißt „Stramer“ von dem polnischen Autor Mikołaj Łoziński. Der Roman war in Polen bereits ein großer Erfolg und wurde nun ins Deutsche von Renate Schmidgall übersetzt. Der Autor Mikołaj Łoziński ist gerade auf Lesetour durch Deutschland (15.01.25 Heilbronn). Er spricht kein Deutsch und so hatte das Poleninstitut eine Simultandolmetscherin für den Autor bereitgestellt, damit auch deutsche Gäste problemlos der Lesung folgen konnten.
Fragen an den Autor stellte Renate Schmidgal. Sie las auch Auszüge aus dem Roman vor. Der Roman wurde passend zur Ausstellung gewählt. Es handelt sich um die Lebensgeschichte der jüdischen Familie Stramer. Diese ist aus heutiger Sicht sehr kinderreich, mit ihren sechs Kindern. Sie leben in der polnischen Stadt Tarnów. Die Stadt liegt 82 km von Krakau entfernt. Mit dem Zug braucht der Darmstädter rund 16 Stunden, mit dem Auto rund 10 Stunden bis Tarnów.
Die Familie hat einen Hund und eine Katze und lebt in bescheidenen Verhältnissen. Die acht-köpfige Familie lebt in einem Zimmer mit Küche. Der Autor hat insgesamt acht Jahre an dem Roman geschrieben, bis zur Veröffentlichung. Zwei Jahre verbrachte er in Archiven. In Polen ist bereits der Nachfolgeroman veröffentlicht. Die Zeitspanne des Romans ist Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die frühen Jahre des zweiten Weltkriegs. Łoziński verbrachte viele Stunden in Bibliotheken in verschiedenen Städten in Tarnów, Krakau, Lemberg (heute Lwiw) und Paris. Die Geschichte sollte sich von einem Schwarz-Weiß Denken abheben.
Der Autor hat jüdische Wurzeln in Tarnów. Sein Großvater heißt Stramer. Eigentlich wollte der Autor ursprünglich einen anderen fiktiven Namen für die Familie verwenden. Dass er dennoch den Roman unter dem Namen „Stramer“ veröffentlichte, lag an einer negativen Erfahrung. Vor ein paar Jahren gab er ein Interview, zusammen mit seinem Bruder Pawel, und erzählte der „Newsweek Polska“ darüber, wie es ist, mit jüdischen Wurzeln in Polen aufzuwachsen. In dem Interview ging es auch um das Thema Identität. Das Interview gelangte nach der Veröffentlichung auf nationalistische Webseiten. Es gab 500 Hass-Kommentare zum Interview mit den zwei Hauptbemerkungen: „Schert euch zum Teufel“ und „veröffentlicht eure echten Namen!“. Diese Aufforderung hat der Autor aufgegriffen und sein nächstes Buchprojekt unter dem echten Familiennamen „Stramer“ veröffentlicht, obwohl das Buch nur eine lose geistige Verbindung mit seiner tatsächlichen Familie hat.
Durch die vorgelesenen Ausschnitte konnte sich der Zuhörer ein eigenes Bild von dem Roman machen. Dabei fällt dem Zuhörer besonders der schwarze, ironische Humor auf, mit dem der Autor Nathan Stramer den Familienvater in einer Episode beschreibt.
Dieser kommt auf die Idee, ein schlechtlaufendes Café zu übernehmen und so den Lebensunterhalt der Familie vermeintlich zu sichern. Dabei stellt er fest, dass es viele Stammgäste gibt, die sich nur einen Kaffee leisten, aber das Gasthaus für Stunden in Beschlag nehmen. Wieviel könnte Nathan verdienen, wenn diese Stammgäste nicht die Stühle seines Cafés für Stunden belegen würden, sondern gleich Platz machen würden für neue Gäste nach dem Kaffeegenuss? Sicherlich ein stattliches Vermögen. Daher kommt Nathan auf die dreiste, aber aus seiner Sicht geniale Idee, die Stuhlbeine zu kürzen. So wird es unbequem für die Gäste zu sitzen, und sie würden sich beeilen ihren Kaffee zu trinken. Diesen Plan setzt Nathan sogleich in die Tat um. Das Endergebnis ist leider nicht das von Nathan gewünscht. Es gelingt ihm zwar mit dem Trick binnen weniger Tage die Stammgäste zu vertreiben. Doch leider kommen die neuen Gäste auf einen „schnellen Kaffee“ nicht vorbei. So muss er nach kurzer Zeit sein Kaffeehaus schließen.
Diese Stelle verdeutlicht den Humor von Łoziński. Er erinnert mich an den schwarzen Humor von Georg Kreisler, von dem in einem anderen Artikel im UniWehrsEL bereits die Rede war. Der Roman besteht aus kurzen aber einprägsamen Kapiteln und wechselt zwischen den Figuren Nathan, seiner Frau Ryka und den Kindern hin und her.
Der zweite Auszug aus dem Buch behandelt das Kennenlernen von Ryka mit ihrem Mann Nathan. Dieser Schlaukopf trifft Ryka auf der Straße und ist sogleich verliebt in die schöne, junge Frau. Er wendet sich an die Eltern und bittet um die Erlaubnis, Ryka zu heiraten. Dabei präsentiert sich Nathan sehr geschickt als weltgewandten, finanziell erfolgreichen Kaufmann, der gerade aus den Vereinigten Staaten von Amerika nach Polen in seiner Heimatstadt Tarnów zurückgekehrt ist. Mit Pelzhandel hat Nathan ein Vermögen gemacht. Die Aussicht auf einen finanziell potenten Schwiegersohn lässt die Eltern Ryka zustimmen, den vermeintlich reichen Kaufmann zu heiraten. Wie der Leser bereits ahnt, war diese Story mehr ein Hirngespenst von Nathan, so wie schon die Idee vom Kaffeehaus. Leider findet seine Frau Ryka diese schlau-dreiste Art und das erfolglose Unternehmertum von Nathan erst nach der Hochzeit mit der ersten Schwangerschaft heraus. So muss die bodenständige Frau Ryka stets das Geld der Familie zusammenhalten damit es der einfältige Nathan nicht in vermeintliche ‚lukrative‘ Anlagemöglichkeiten investiert.
Diese Kapitel zeigen, mit welchem Spaß an den Figuren der Autor seine Familiengeschichte verfasst hat. Es dreht sich um Alltagsgeschichten. Die erste Liebe, Streit unter Geschwistern, Probleme in der Schule oder die Kunst, richtig zu Flirten. Die arme, jüdische Familie Stramer ist ein typischer polnischer Haushalt aus dem 20 Jahrhundert.
Mehr als 40 % der Bevölkerung in Tarnów waren vor dem Zweiten Weltkrieg Menschen mit jüdischem Glauben. Nathan sieht sich als Unternehmer und hasst deshalb die Kommunisten, weil er fürchtet, durch sie noch ärmer zu werden. Dabei übersieht er, dass zwei seiner Söhne sich bereits den Kommunisten angeschlossen haben, und ein dritter sich gedanklich mit dem Beitritt zu den Kommunisten beschäftigt. Nathan strebt seinem älteren Bruder Ben nach, der es tatsächlich zu einem erfolgreichen Pelzhändler in den USA gebracht hat. Nathan möchte den Bruder übertrumpfen. Dies macht den Charme der Figur aus.
Vielleicht haben einige Leser auch Lust bekommen, die Stadt Tarnów zu besuchen. Laut einer Umfrage in 2021 in CNN gehört Tarnów zu den 15 schönsten Städten in Polen. Gedanklich kann der Leser auch einen Stadtrundgang durch Tarnów unternehmen. Denn die Stadtteile und wichtigsten Orte sind in dem Buch genau beschrieben.
Über einen Kommentar freut sich Ihr Kulturbotschafter des UniWehrsEL
Danke für das Bild von jacqueline macou auf Pixabay