Du betrachtest gerade „Cinderella“, getanzte Illusionen oder „Mädchen aus Ost-Berlin“

Am Theater Meiningen, beschrieben auch schon 2024 unter „The Bach Project“ kann man die beeindruckende Aufführung von „Cinderella“ besuchen. Es geht um die bekannte Geschichte, in der sich ein bezauberndes junges Mädchen aus der Asche heraus zur selbstbewussten Prinzessin wandelt. Der Eisenacher Ballettchef Andris Plucis hat das Stück als Ballett choreografiert und beweist, das Märchen bietet neben der musikalischen Brillanz auch größte tänzerische Ausdrucksmöglichkeiten. Dieses Stück beinhaltet das Konzept der Halbwahrheiten und Lebenslügen, spiegelt auch Sehnsüchte und Hoffnungen wider und passt somit hervorragend zu den Themen unseres Sommersemesters 2025. Einen Theaterbesucher hat es angeregt, uns zu schreiben und seine Eindrücke zu schildern. Ein ganz großes Dankeschön dafür!

Liebe UniWehrsEL-Leser,

die Aufführung am Theater Meiningen hat mich tief bewegt und zum Nachdenken angeregt. Besonders faszinierte mich, wie das Stück das Konzept der Halbwahrheiten und Lebenslügen thematisierte und auf den bekannten Märchencharakter übertrug. Halbwahrheiten sind Aussagen, die nur teilweise wahr sind und somit ein verzerrtes Bild der Realität vermitteln. Sie bestehen aus einer Mischung von Fakten und Lügen, wodurch sie besonders schwer zu durchschauen sind. Im Kontext von „Cinderella 1989“ spiegeln Halbwahrheiten die Kluft zwischen Cindys tristem Leben in Ost-Berlin und den verlockenden Illusionen des wohlhabenden Westens wider. Obwohl Cindy durch die VHS-Kassette einen Einblick in das glamouröse Leben im Westen erhält, bleibt ihr die vollständige Erfahrung verwehrt, was ihre Sehnsüchte und Hoffnungen befeuert, aber auch ihre Unsicherheit verstärkt.

Die Vorstellung in Meiningen zeigte eindrucksvoll, wie Cindy sich gegen die gesellschaftlichen und persönlichen Einschränkungen durchsetzen muss, um ihre Träume zu verwirklichen. Die Inszenierung Danielle Jost/ Robert Schrag verknüpfte auf kunstvolle Weise Märchenelemente mit den realen Herausforderungen des Lebens in einer geteilten Welt, und regte dazu an, über die eigenen Lebenslügen und die Halbwahrheiten, denen wir begegnen, nachzudenken:

In dem grauen und tristen Ost-Berlin der späten 1980er Jahre lebt die arme Cindy, eine junge Frau, die von einem Leben voller Glanz und Freiheit träumt. Jeden Tag muss sie sich den harten Anforderungen ihrer kaltherzigen Stiefmutter und der gehässigen Stiefschwestern stellen. Ihr eintöniges Leben ist geprägt von Hausarbeit und Unterdrückung, während ihre reichen Verwandten im Westen ein Leben im Überfluss genießen.

Eines Tages bringt ihre Westverwandtschaft eine VHS-Kassette mit einer Musicalvorstellung von „Cinderella“ aus dem berühmten Theater des Westens mit. Cindy ist überwältigt von der Farbenpracht und der Magie der Vorstellung. Von diesem Moment an träumt sie nicht nur von einem besseren Leben, sondern auch von einem Paar roter „Adidas“-Schuhe, die ihr den Weg in eine Märchenwelt ebnen könnten.

In ihren stillen Momenten stellt sich Cindy vor, wie sie auf der Bühne des Theaters des Westens tanzt, gekleidet in ein wunderschönes Kleid und den strahlend roten Schuhen. Ihre Wünsche und Träume werden noch intensiver, als ihre verstorbene Mutter wie eine gute Fee auftaucht und ihr die roten Schuhe herbeizaubert.

Doch die Realität holt Cindy schnell ein, als ihre arrogante Westverwandtschaft plant, die echte „Cinderella“-Vorstellung im Theater des Westens zu besuchen. Cindy ist verzweifelt, denn sie weiß, dass sie niemals die Erlaubnis ihrer Stiefmutter erhalten wird, an diesem Ausflug teilzunehmen. In einem Akt der Verzweiflung und Hoffnung erscheint ihre Mutter erneut und verleiht Cindy mit Magie einen West-Pass, eine Eintrittskarte und ein wunderschönes Kleid. Cindy kann es kaum glauben – sie hat alles, was sie braucht, um ihren Traum zu verwirklichen. Doch ein großes Hindernis bleibt: der böse Grenzer, der über ihre Ausreise entscheidet. Wird er Cindys Traum von Freiheit und Glück zerstören?

Die düstere Realität von Cindys Leben in Ost-Berlin, geprägt von Entbehrungen und Unterdrückung, steht im starken Kontrast zu ihren farbenfrohen Träumen vom Westen. Die lebendigen Bilder der Freiheit, des Wohlstands und der kulturellen Möglichkeiten im Westen sind für Cindy wie ein funkelnder Stern in einer sonst dunklen Welt. Ihr Herz ist erfüllt von Hoffnung und Entschlossenheit, und sie ist bereit, alles zu riskieren, um ihren Traum wahrwerden zu lassen.

Cindy steht aufgeregt vor dem majestätischen Theater des Westens. Die glitzernden Lichter und der Trubel der Stadt sind für sie wie eine andere Welt. Doch als sie ihre Eintrittskarte hervorkramen möchte, stellt sie entsetzt fest, dass sie diese in der Eile verloren hat. Eine Welle der Panik überkommt sie – sie muss diese Vorstellung besuchen! Ohne lange nachzudenken, schlüpft sie unbemerkt ins Theater und stolpert ganz unbedarft in die letzten Proben der Tänzer.

Während sie sich durch die verwirrten Tänzer schlängelt, trifft Cindy auf Toni, ihren Traumprinzen. Er ist noch schöner als auf der VHS-Kassette und sieht aus wie aus einem Märchenbuch entsprungen. Die Begegnung mit ihm raubt ihr den Atem. Doch im Gegensatz zu Cindy ist die echte Cinderella zickig und arrogant, und zeigt deutlich, dass sie keine Lust hat, mit Toni zu tanzen. Der arme Choreograf ist völlig verspannt und verzweifelt darum bemüht, die beiden zusammenzubringen.

Während einer der Proben verletzt sich die echte Cinderella und muss aufgeben. Der Choreograf ist ratlos, aber Cindy bietet ihre Hilfe an. Zunächst ungläubig, lässt er Cindy schließlich ihren Platz einnehmen. Toni, beeindruckt von Cindys natürlicher Anmut und Charme, verliebt sich sofort in die Aushilfe. Ihre gemeinsamen Tanzschritte sind wie ein magischer Moment, und die Chemie zwischen ihnen ist spürbar. Toni und Cindy kommen sich näher, und es scheint, als wäre Cindy endlich am Ziel ihrer Träume angekommen.

Doch als die Uhr Mitternacht schlägt, muss Cindy zurück über die Grenze nach Ost-Berlin. In ihrer Eile ergreift sie die Flucht und lässt Toni mit einem einzigen roten Schuh zurück. Toni ist erschüttert und verwirrt – wer war dieses geheimnisvolle Mädchen, das sein Herz im Sturm erobert hat?

Toni kann Cindy nicht vergessen und macht sich verzweifelt auf die Suche nach ihr. Er durchkämmt das Theater, fragt Tänzer und Techniker, doch niemand kennt die wahre Identität der geheimnisvollen Tänzerin. Schließlich nimmt er den roten Schuh und beginnt eine aufregende und gefährliche Reise über die Grenze nach Ost-Berlin, um das Mädchen seiner Träume zu finden.

Toni durchquert die düsteren und beklemmenden Straßen Ost-Berlins, auf der Suche nach Hinweisen. Schließlich, nach einer zermürbenden Suche, findet Toni Cindy in einem kleinen Tanzstudio, wo sie heimlich ihre Tanzträume lebt. Er erkennt sie sofort und eilt auf sie zu, den roten Schuh in der Hand. Cindy ist überwältigt vor Freude und Überraschung, als sie ihren Traumprinzen vor sich sieht. Die beiden fallen sich in die Arme, und alle Zweifel und Ängste verschwinden im Licht ihrer wiedergefundenen Liebe.

Cindy und Toni wissen, dass sie Hindernisse überwinden müssen, aber ihre Liebe gibt ihnen die Kraft, sich allen Herausforderungen zu stellen.

Ost und West – zwei Welten

In „Cinderella 1989“ wird die arme Cindy aus Ost-Berlin durch ihre Westverwandtschaft und die Unterschiede in den Lebensbedingungen ständig an ihre eigene Benachteiligung erinnert. Während ihre reichen Westverwandten in Wohlstand und Freiheit leben, bleibt Cindy nur die trügerische Illusion der VHS-Kassette einer Musicalvorstellung von Cinderella aus dem Theater des Westens. Die Westverwandten genießen selbst den Luxus von Eintrittskarten für die echte Vorstellung und sind somit das Sinnbild für den unerreichbaren Traum, den Cindy hegt. Für Cindy fühlt es sich ständig so an, als sei sie nur zweite Wahl. Sie ist arm, aber freundlich und warmherzig. Im Gegensatz dazu ist die West-Cinderella arrogant und zickig. Diese Gegensätze verdeutlichen Cindys inneren Konflikt und ihre Sehnsucht nach Anerkennung und Wertschätzung, die ihr in Ost-Berlin verwehrt bleiben. Die einzige Person, die für einen Ausgleich sorgt und Cindy Hoffnung schenkt, ist ihre Mutter, die wie eine gute Fee erscheint und Cindy mit den roten Adidas-Schuhen ausstattet.

Halbwahrheiten spielen eine zentrale Rolle in Cindys Leben. Eine Halbwahrheit ist eine Information, die teilweise wahr und teilweise falsch ist, und somit ein verzerrtes Bild der Realität zeichnet. Für Cindy besteht die Halbwahrheit darin, dass sie zwar einen kleinen Einblick in das Leben im Westen durch die VHS-Kassette erhält, aber niemals die vollständige Erfahrung machen darf. Ihre Westverwandten geben ihr nur einen Ausschnitt dessen, was möglich ist, während sie selbst die vollen Privilegien genießen.

Die Halbwahrheit verdeutlicht sich auch in der Art und Weise, wie Cindys Leben in Ost-Berlin und das Leben ihrer Westverwandten dargestellt werden. Cindy sieht sich selbst als minderwertig und nicht gleichwertig, da ihr nur die zweite Wahl bleibt – sei es bei den Möglichkeiten, dem Zugang zu kulturellen Erlebnissen oder der gesellschaftlichen Anerkennung. Diese verzerrte Realität verstärkt Cindys Gefühl der Unterdrückung und ihr Streben nach Freiheit.

Cindys Mutter, die gute Fee, ist die Einzige, die für einen magischen Ausgleich sorgt. Sie gibt Cindy die roten Schuhe und hilft ihr, die Grenze zu überwinden und ihre Träume zu verfolgen. Diese märchenhafte Intervention symbolisiert die Hoffnung und die Möglichkeit, dass selbst in einer Welt voller Halbwahrheiten und Ungerechtigkeiten das Gute triumphieren kann. Die Magie der Fee ermöglicht Cindy, ihre Träume zu leben und die wahren Werte zu erkennen, die in Freundlichkeit, Mut und Selbstvertrauen liegen.

Nachklapp:

Das wunderbare Happyend liegt heute darin, gemeinsam in einem Land leben zu können. Ob das Treffen des „Mädchen aus Ost-Berlin“ mit einem bekannten Star des Westens ein Mythos ist oder tatsächlich wahr sein könnte, hat schon Udo Lindenberg zu seinem berühmten Lied veranlasst. Das kennen Sie sicher und haben nun Lust bekommen, mir von Ihren Sehnsüchten, Träumen und Halbwahrheiten zu berichten!

 Danke für das Bild von Kai Vogel auf Pixabay