Du betrachtest gerade Höckmayrs „Tristan und Isolde“ –  Bruch mit inszenierten Liebesklischees und ‚male gaze‘

Das UniWehrsEL-Team möchte gerne mit Ihnen in Kontakt kommen. Dies geschieht zuweilen durch einen Kommentar auf einen Artikel. Dieser beschränkt sich in der Regel auf ein Sternchen, liebe Grüße oder ein Dankeschön. Dies wird natürlich gerne von uns angenommen und erwidert. Noch besser allerdings finden wir, wenn tatsächlich Nachfragen kommen. So geschehen bei dem Beitrag über den Bariton Humm. Und tatsächlich auch auf Wagners Tristan und Isolde. Aber bitte lesen Sie selbst:

Lieber I. Burn,

Mit großem Interesse habe ich den Text über die Sehnsucht von Isolde am Staatstheater Darmstadt gelesen. Dabei fehlte mir ein Aspekt. Ganz offensichtlich hat die Regie mit ihrer Darstellung des Liebespaars keine typischen Liebesklischees aus Filmen verwendet. Gab es denn zwischen Tristan und Isolde keine körperliche Berührung, keinen Kuss, keine heißen Blicke? Wurde tatsächlich nur durch die Musik von Wagner die innige Beziehung der Figuren deutlich? Doch warum wählte die Regie diesen Ansatz? Ist das Publikum von Liebesszenen etwa übersättigt? Lieber Wagnerkenner I. Burn, für eine Antwort wäre ich Ihnen sehr dankbar!

Lieber Blogleser,

Mit großem Vergnügen möchte ich Ihre Fragen nach bestem Wissen und Gewissen beantworten. Beginnen wir bei

Filmischen Liebesszenen und ihre Konventionen

Berühmte Liebesszenen in Filmen haben über Jahrzehnte hinweg bestimmte Erwartungen bei den Zuschauern geprägt. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Szene aus Casablanca (1942), in der Rick und Ilsa sich unter dem bittersüßen Dröhnen eines Flugzeuges Lebewohl sagen. Dieser Moment verdichtet den Konflikt zwischen Liebe und Pflicht und transportiert eine tiefgreifende Sehnsucht. Ebenso ikonisch ist die Szene aus Titanic (1997), in der Jack und Rose mit ausgebreiteten Armen am Bug des Schiffs stehen. Der Ozean, die Weite und die begleitende Musik symbolisieren grenzenlose Freiheit und Liebe. Solche Szenen erfüllen die Erwartungen an Leidenschaft und Dramatik und appellieren an die überwältigenden Gefühle des Publikums.

Ein anderes Beispiel ist die Beziehung im Film Neuneinhalb Wochen (1986), die durch den sogenannten male gaze dominiert wird. Frauen werden hier oft als Objekte männlicher Begierde inszeniert, während die emotionale und psychologische Tiefe der weiblichen Figur in den Hintergrund rückt. Dieses Stilmittel verstärkt tradierte Geschlechterrollen, in denen Frauen weniger als gleichwertige Partnerinnen, sondern vielmehr als Projektionsflächen männlicher Fantasien dargestellt werden.

Die Inszenierung von Eva-Maria Höckmayr hebt sich stark von den Erwartungen ab, die oft durch ikonische Filmliebesszenen geprägt werden. Denken die Leser etwa an die leidenschaftliche Szene in Dirty Dancing (1987), in der „Johnny“ und „Baby“ ihre Liebe im letzten Tanz des Films vor allen Gästen des Ferienresorts öffentlich zelebrieren – ein Moment, der durch Musik, Bewegung und Dramatik voller Sehnsucht aufgeladen ist.

Diese Szenen wecken bei den Zuschauern klare Erwartungen: Liebe ist leidenschaftlich, ekstatisch und visuell betörend. Musik, Gesten und Dialoge verstärken diese emotionale Wirkung. Hier sucht das Publikum weniger die Subtilität, sondern vielmehr das große Gefühl, die dramatische Hingabe.

Höckmayrs Bruch mit den Erwartungen

Eva-Maria Höckmayr geht in ihrer Inszenierung von Tristan und Isolde bewusst einen anderen Weg und bricht mit den Sehgewohnheiten, die das Kino geschaffen hat. Statt auf körperliche Nähe oder dramatische Gesten zu setzen, bleibt das Liebespaar in ihrer Inszenierung statisch: Tristan und Isolde sitzen auf gegeneinander gerichteten Stühlen, während Tänzer im Hintergrund die Gefühle des Paares physisch ausdrücken. Diese Reduktion verlangt vom Publikum eine andere Art der Auseinandersetzung mit Liebe, indem die Emotionalität vor allem durch die Musik von Wagner und die symbolischen Bewegungen der Tänzer vermittelt wird.

Ein bemerkenswerter Moment in der Inszenierung ist Isoldes Entscheidung, ihr Brautkleid auszuziehen und stattdessen Hosen zu tragen. Das Brautkleid, ein Symbol für traditionelle Weiblichkeit, wird bewusst abgelegt, was Isoldes Unsicherheit und zugleich ihre Eigenständigkeit betont. Die Hosen symbolisieren nicht nur die Möglichkeit, sich schnell von Tristan zu entfernen, sollte er sich als grob oder nicht einfühlsam erweisen, sondern greifen auch das bekannte Sprichwort „Wer hat hier die Hosen an?“ auf. In dieser Darstellung tragen sowohl Tristan als auch Isolde Hosen, was ihre Gleichwertigkeit und gegenseitige Achtung verdeutlichen soll. Psychologisch entfaltet dies eine starke Wirkung, da Isolde als handlungsfähige Figur gezeigt wird, die sich ihrer eigenen Sicherheit und Position innerhalb der Beziehung bewusst ist. Das Publikum wird dazu angeregt, sich mit subtileren Dynamiken wie Unsicherheit und Respekt auseinanderzusetzen, statt sich von konventionellen Liebesklischees einlullen zu lassen.

Liebe neu denken: Ein Spiel mit den Erwartungen

Diese Inszenierung bricht bewusst mit den Konventionen des male gaze. Höckmayr bietet eine reflektierte Perspektive auf die Rolle der Frau in Liebesbeziehungen, die von Unsicherheiten, Respekt und Gleichberechtigung geprägt ist. Anstelle der traditionellen Darstellung von Dominanz und Erotik erschafft sie eine subtilere und tiefgründigere Darstellung der Dynamik zwischen Mann und Frau.

Höckmayr spielt auf faszinierende Weise mit den Erwartungen des Publikums, das durch das Kino an überschwängliche Liebesinszenierungen gewöhnt ist. Die Zuschauer betreten den Theaterraum mit der Erwartung, eine bekannte Dramaturgie von Romantik und Leidenschaft zu erleben. Doch die Zurückhaltung und Abstraktion in ihrer Inszenierung führen zu einer Irritation, die zum Nachdenken anregt. Sie fordert das Publikum auf, Liebe jenseits von Klischees und dem male gaze zu begreifen – als einen Zustand, der nicht nur durch sichtbare Gesten, sondern durch innere Konflikte und gegenseitige Achtung geprägt ist.

Fazit

Die Inszenierung von Eva-Maria Höckmayr zeigt, dass Liebesszenen auch ohne die visuellen und emotionalen Überwältigungen des Kinos tief berühren können. Sie fordert dazu auf, die Erwartungen an die Darstellung von Liebe zu hinterfragen und traditionelle Geschlechterrollen zu durchbrechen. Statt pompöser Gesten rückt sie Intimität, Unsicherheit und Gleichberechtigung ins Zentrum – und zeigt, dass Liebe im Theater anders, aber ebenso kraftvoll dargestellt werden kann. So könnte man sagen: Höckmayr zeigt keine Liebe, sie hinterfragt sie.

Mit freundlichen Grüßen

I. Burn vom Team UniWehrsEL

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