Du betrachtest gerade Lesertipp: »Die Passage nach Maskat« von Cay Rademacher –  Entwirrung von Halbwahrheiten

Cay Rademacher, geboren 1965, ist nicht nur Redakteur bei GEO Epoche, sondern auch bekannt für seine Kriminalromane wie ›Der Trümmermörder‹ (2011), ›Der Schieber‹ (2012) und ›Der Fälscher‹ (2013). In seinem 1922 bei Dumont erschienenem Krimi »Die Passage nach Maskat« lässt er den Spätsommer 1929 wieder auferstehen, mit dem letzten Sommer der Goldenen Zwanziger. Niemand erkennt die Vorzeichen der Weltwirtschaftskrise. Noch bestimmen Luxus und Frivolität, Jazz und Kokain den Rhythmus des Lebens auch auf dem Ozeanliner Champollion, der von Marseille aus Richtung Orient in See sticht.  

Liebe Leser des Blog UniWehrsEL

Die „Champollion“, ein majestätischer Ozeanliner, gleitet durch die unendlichen Weiten des Meeres, doch an Bord ist die Luft von einer drückenden Enge erfüllt. Der elegante Speisesaal, einst Schauplatz fröhlicher Zusammenkünfte, erscheint nun wie ein Käfig, in dem die Passagiere ihre Geheimnisse und Halbwahrheiten wie Schatten mit sich tragen. Das Klirren der Gläser und das Lachen der Reisenden vermischen sich mit einem unterschwelligen Gefühl der Bedrohung, das in der Luft liegt. Für Theodor Jung, den Fotoreporter, wird die Reise schnell zu einem psychologischen Spiel, in dem jede Begegnung und jedes Gespräch eine neue Schicht von Verwirrung und Misstrauen hinzufügt. Die Halbwahrheiten, die sich um die Rostberg-Familie und die anderen Passagiere ranken, zersetzen seine Psyche und lassen ihn an der Realität zweifeln.

Was ist wahr, und was ist nur eine Fassade? In diesem engen Raum, wo jeder Blick und jedes Wort eine potenzielle Falle darstellen, beginnt Theodor in »Die Passage nach Maskat« von Cay Rademacher, die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge zu hinterfragen. Die drückende Enge des Schiffes wird zum Symbol für die erdrückenden Geheimnisse, die ihn umgeben, und die zersetzende Wirkung dieser Halbwahrheiten droht, ihn in den Abgrund zu ziehen.

Die Beziehung zwischen Theodor und Dora Jung

Die Beziehung zwischen Theodor Jung und seiner Frau Dora ist von einer kühlen Distanz geprägt. Liebt Dora Theodor noch oder ist Theodor mit seinem Beruf als Fotoreporter ihr nicht mehr standesgemäß? Hat Dora eine heimliche Affäre mit einem anderen Mann? Theodor ist auf der Reise, um eine Reportage über die illustren Passagiere zu erstellen. Doch in Wirklichkeit plagen ihn Beziehungszweifel. Dora scheint sich von ihm abzuwenden. Als Dora während der Reise verschwindet, und Theodor vor der Frage steht: Was ist mit ihr geschehen? offenbart sich eine zentrale Halbwahrheit: Theodor glaubt, Dora sei an Bord, während die Realität eine andere ist. Diese Diskrepanz zwischen dem, was er zu wissen glaubt, und dem, was tatsächlich passiert ist, wirft Fragen auf. Welche Geheimnisse hat Dora möglicherweise vor ihm verborgen? Und wie sehr haben die gesellschaftlichen Erwartungen, die das Paar umgebent, ihre Beziehung belastet?

Geheimnisse und Verbrechen an Bord

Die Spannung an Bord der Champollion steigt, als Theodor beginnt, die dunklen Geheimnisse der anderen Passagiere zu ergründen. Die Halbwahrheiten, die sich um die Rostberg-Familie ranken, sind besonders aufschlussreich. Der alte Rostberg und seine reaktionären Ansichten stehen im krassen Gegensatz zu Theodors liberalen Überzeugungen. Hier wird deutlich, dass die Rostbergs nicht nur eine Familie sind, sondern auch ein Symbol für die gesellschaftlichen Strukturen der Weimarer Republik.

Ein faszinierendes Element ist die Begegnung zwischen Theodor und der schillernden Anita Berber. Während die anderen Mitglieder der Rostberg-Familie sie ablehnen, umschwärmt Anita Theodor. Anita Berber wirkt wie ein Abgesang einer vergangenen Zeit, in der sich Dora gegen den Willen ihrer Familie gestellt hat, um mit Theodor zusammen zu sein. Ihre Figur steht für die Freiheit und das Aufbegehren gegen die Konventionen der Zeit, während die Rostbergs in ihren starren, reaktionären Ansichten gefangen sind. Das gilt für die Eltern von Dora, aber Theodor ist sich nicht sicher, ob Dora nicht die Seite gewechselt hat und nun auch reaktionäre Ansichten hinter seinem Rücken vertritt.

Ein weiterer interessanter Charakter ist der Sohn der Rostberg-Familie, Erwin. Auf der einen Seite ist Erwin ein überzeugter Nazi, der die Ideale der nationalsozialistischen Bewegung propagiert. Von Unternehmertum hat Hugo keine Ahnung. Dafür scheint Erwin bei seinen Kameraden stets den richtigen Ton zu treffen. Eine Karriere bei den Nazis scheint vorherbestimmt. Auf der anderen Seite treibt er sich in den schwulen Etablissements Berlins der 1920er Jahre herum, was eine offenkundige Doppelmoral offenbart. Bertold Lüttgen, die rechte Hand des Familienpatriarchen Hugo Rostberg hat von Erwins geheimem Leben erfahren und nutzt dieses Wissen, um ihn aus dem familiären Geschäft zu drängen. Diese Halbwahrheiten über Erwins Identität und seine wahren Neigungen machen ihn zu einer tragischen Figur, die zwischen den Erwartungen seiner Familie und ihrer eigenen Identität hin- und hergerissen ist.

Die Enthüllung, dass Theodors Frau Dora nicht die leibliche Tochter der Rostbergs ist, sondern aus einem Seitensprung entstanden, wirft ein völlig neues Licht auf die gesamte Familie. Ihr Verhältnis zu ihrer vermeintlichen Mutter ist sehr unterkühlt, was die emotionalen Spannungen innerhalb der Familie weiter verstärkt. Diese Halbwahrheiten über ihre Herkunft und die familiären Bindungen sind entscheidend für das Verständnis der Dynamik innerhalb der Rostbergs und der Beziehungen zu den anderen Passagieren. Zusätzlich gibt es an Bord einen italienischen Anwalt namens Alessandro Moretti, der sich als heimlicher Schwarm Mathilde – Doras Mutter entpuppt. Doch hinter seiner charmanten Fassade verbirgt sich ein kriminelles Interesse: Moretti ist kein ehrlicher Jurist wie er vorgibt, sondern ein trickreicher Einbrecher, der es auf den Schmuck der Mutter abgesehen hat. Theodor muss sich fragen, ob Moretti möglicherweise in einem gefährlichen Komplott verwickelt ist, das die gesamte Familie in den Abgrund ziehen könnte.

Unter den Passagieren befindet sich auch ein zwielichtiger Typ namens Viktor Stein. Er ist ein stämmiger Kerl mit einem markanten Gesicht und einem durchdringenden Blick, der sofort ins Auge fällt. Stein gibt sich als wohlhabender Geschäftsmann aus, doch es gibt etwas Unheimliches an ihm, das Theodor misstrauisch macht. Während er sich charmant und gesellig gibt, spürt man, dass er ein dunkles Geheimnis mit der Rostberg-Familie verbindet. Gerüchte über seine Verbindungen zur Unterwelt und seine zwielichtigen Geschäfte machen die Runde. Theodor fragt sich, ob Stein möglicherweise in die kriminellen Machenschaften verwickelt ist, die sich um Dora und die Rostbergs ranken. Seine Präsenz an Bord ist nicht nur eine Quelle der Verwirrung, sondern auch eine potenzielle Bedrohung. Welche Rolle spielt er in diesem gefährlichen Spiel, und wie weit ist er bereit zu gehen, um seine eigenen Interessen zu schützen? Stein wird schnell zu einem Schlüsselspieler in der verzweifelten Suche nach der Wahrheit, und Theodor muss entscheiden, ob er ihm trauen kann oder ob er ein weiteres Puzzlestück in einem viel größeren, dunklen Geheimnis ist.

Eine unerwartete Verbündete findet Victor in der Stewardess Fanny. Sie hasst die Deutschen, weil sie im 1. Weltkrieg sich gegenüber den Franzosen versündigt haben. Mit Fanny teilt Victor seine traumatischen Kriegserlebnisse, die ihn dazu zwingen nachts starke Schlafmittel zu nehmen. Eine dunkle Bedrohung ist zudem der 1. Offiziers des Schiffes. Er ist mit Hugo dem Patriarchen auf geheimnisvolle Art verbunden.

Reisefieber und die Atmosphäre des Unheils

Die Atmosphäre des Reisefiebers, die Rademacher so eindrucksvoll einfängt, verstärkt das Gefühl der Ungewissheit und des drohenden Unheils. Theodor ist in einem ständigen Zustand der Verzweiflung und Wut, während er versucht, die Wahrheit über das Verschwinden seiner Frau zu ergründen. Diese emotionale Achterbahnfahrt führt zu weiteren Halbwahrheiten: Was ist real, und was ist das Produkt seiner traumatischen Vergangenheit als Soldat im ersten Weltkrieg?

Inmitten dieser spannungsgeladenen Atmosphäre und der vielschichtigen Charaktere entfaltet Cay Rademacher in »Die Passage nach Maskat« ein fesselndes Spiel aus Geheimnissen und Halbwahrheiten, das den Leser bis zur letzten Seite in seinen Bann zieht. Ich kann dieses Buch nur wärmstens empfehlen – es ist eine packende Lektüre, die nicht nur unterhält, sondern auch zum Nachdenken anregt.

Mit besten Grüßen, eine Leserin des UniWehrsEL

Danke für die Bilder und besonders des Ozeanriesen von omar sahel auf Pixabay

  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:7. Mai 2025
  • Lesedauer:10 min Lesezeit