Du betrachtest gerade Die Marionette und das Geheimnis der Wirkung auf den Zuschauer

… Fortsetzung des Beitrags von Heiner Schwens

Heiner Schwens stellte am Schluß seines letzten Beitrages die Fragen: Wie sieht der Zuschauer die Marionette auf der Bühne und Wie sieht im Vergleich dazu der Marionetten-Spieler „seine“ Marionette? Sein Ergebnis: Für einen Marionettenspieler ist ein anderer Mensch niemals eine Marionette. Er würde genauso wenig einen Menschen als Objekt, als Gegenstand z. B. Klavier, bezeichnen. Die Beliebheit entsteht, wenn drei Elemente zusammenwirken: Spieler/in – Theaterfigur – Zuschauer/in.

Einen interessanten Ansatz zu „Mensch und Marionette“ liefert Frau. Prof. Dr. Irmela Neu. Sie lehrt Interkulturelle Kommunikation in Spanien und Lateinamerika an der Hochschule München für angewandte Wissenschaften (HM), gibt Seminare zur empathischen Kommunikation und ist Autorin. Sie untersucht in ihrem Artikel: „Verwandtschaft von Marionetten und Menschen“, das Geheimnis der Wirkung auf den Zuschauer.

Sie spricht von der Notwendigkeit der Empfindung einer vollkommenden Einheit zwischen Puppenspieler, Marionetten und Publikum, damit die emotionale Dynamik sich immer wieder aufs Neue beim Publikum einstellt.

Reicht es aus, wenn ein Marionettenspieler ein Band zwischen sich und der Marionette herstellt? Wie wir ja mittlerweile erfahren haben macht er dies, „indem er sich mit seinen Marionetten verbindet, einen Dialog mit ihnen führt, sie erspürt, sie als Person wahrnimmt.“ Diese Verbindung ist jedoch nicht gradlinig, sowie sie die Schnüre als Verbindung zur Marionette darstellen. „Vielmehr ist es eine elliptisch geformte Spirale, weil nur so das intentionale Einschwingen in die `Form der Bewegung` von `natürlichen Gelenken` möglich ist“.

(Anmerkung Heiner Schwens): Naturwissenschaftlich gesehen gibt es keine „elliptisch geformte Spirale“, warum nicht? Weil Ellipsen geschlossene Kurven darstellen, während Spiralen offen sind und sich nach außen winden). Aber vielleicht ist es genau dieser Widerspruch, der das scheinbar Unmögliche möglich macht, nämlich einem Marionettenkörper eine fast eigenständige Bewegung mit Hilfe des Marionettenspielers zuzuordnen, erlaubt.

Bei dieser Verschmelzung handelt sich um kein statisches Momentum, weil „die Schnüre mit einer leichten elliptischen Drehung im Rhythmus seines Atmens (Marionettenspieler) in Schwingung gesetzt werden“, aus Statik wird Dynamik.

Ein weiterer wichtiger, noch anspruchsvollerer „zentraler Aspekt zum lebendigen Marionettenspiel“ muss noch hinzukommen, nämlich „das Ausloten der Zentrierung bei sich und den Marionetten“. Es gilt, „den Weg der Seele des Tänzers“ zu beschreiten. Dazu gehört, dass der Marionettenspieler ganz mit der Kraft seiner eigenen Mitte mit seiner Marionette verschmilzt, nur dadurch entsteht „eine gebündelte Strahlkraft“. 

Auch H. v. Kleist setzt sich damit in seiner ErzählungÜber das Marionettentheater“ auseinander.

In seiner Erzählung geht es um den „Verlust der natürlichen menschlichen Anmut durch menschliches Bewusstsein und die Wiederfindung dieser durch einen Zustand der Unmittelbarkeit“.

Laut Kleist besitzt die Marionette durch ihr mangelndes Selbstbewusstsein eine vollkommene Grazie. Sie wird nicht von ihrem eigenen Willen geleitet, sondern folgt den Gesetzen der Mechanik, was ihr eine ungestörte, natürliche Bewegung verleiht. Sie ist das Sinnbild einer „unbewussten Naivität“. Der Mensch hat sie durch seine Reflexion und sein Streben nach künstlicher Perfektion jedoch verloren. Kleist stellt nun verschiedene Szenarien vor um zu zeigen, „wie die Wiedererlangung dieser Unschuld durch ein unendliches Bewusstsein (Gott), oder durch eine Rückkehr zur natürlichen, unreflektierten Bewegung möglich ist“.

Bisher bin ich nur kurz auf die Beziehung zwischen Zuschauer und Objekt, als solches bezeichne ich zunächst einmal die Marionette, eingegangen.

Aber, die menschliche Bereitschaft zur Empathie ist stark ausgeprägt und Menschen sind in der Lage Empathie nicht nur gegenüber Menschen, sondern auch gegenüber anderen Lebewesen wie Tieren (siehe Seminar „Mensch und Tier„), aber auch unbelebten Gegenständen und Fantasiewesen zu empfinden.

Empathie zu unbelebten Objekten erscheint auf dem ersten Blick paradox. Das „Paradox der Fiktion“ besagt, dass der Zuschauer emotional auf etwas reagiert, von dem er weiß, dass es nicht existiert. Hans Jürgen Wulff (deutscher Medienwissenschaftler und emeritierter Professor für Medienwissenschaft am Institut für Literaturwissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) schreibt in seinem Artikel: „Paradox der Fiktion“: Das Paradox wird nicht aufgelöst. „Das Paradox sei unproblematisch, weil der Rezipient eine Illusion erschaffe, in der die Charaktere als existent konstituiert sind“.

In ihrer Masterarbeit „Empathie und Objekt“ nimmt Marta Weniger hierzu Stellung. Ein Fazit für sie besteht darin, dass sich die „Ähnlichkeit Mensch und Objekt als entscheidender Faktor für einen empathischen Bezug auf Dinge herauskristallisieren“ muss.

Für Christine Noll Brinkmann ist Empathie in ihrem Beitrag „Empathie“ aus „Somatische Empathie bei Hitchcock“: Eine Skizze. auf Zweierlei gerichtet. Für das Verstehen einer anderen Person oder einer Figur ist es erstens notwendig, „den inneren Blick auf das Handlungsgeschehen nachbilden zu können, den inneren intentionalen Zusammenhang einer Erlebnissituation von innen her zu rekonstruieren“. (meine Anmerkung dazu: Ich habe eben von der „gebündelten Strahlkraft“ vom Verschmelzen zwischen Marionettenspieler und Marionette berichtet). Zweitens, wenn sich der Zuschauer nicht nur kognitiv „an den Ort“ des Empathisierenden hineinversetzt, sondern das empathisierte Gefühl als eigenes Gefühl wiederholt, dann verschmilzt er mit dem Geschehen.

Die Vorstellung, dass ein Zuschauer das emotionale Erleben abgebildeter Figuren nachzeichnet (sie nacherlebt), nimmt sich wie die Vorstellung eines Zuschauers aus, der wie eine MARIONETTE dem Ausdruckserleben nachgeführt wird, das er beobachtet.

Vielleicht ein Grund, warum die Marionette so auf uns wirkt, liegt in dem, was sie alles vermag:

Sie kann tanzen und schweben, lachen und weinen – rühren und verzaubern. Sie kann eine geheimnisvolle Welt mit vielen übernatürlichen Dingen, mit Wundern, Geistern und Zauberern, schaffen. Oder mit anderen Worten: „Das Wirkliche erscheint verwandelt, der Mensch entmenschlicht – die Dinge sind lebendig geworden“.

Danke, lieber Heiner Schwens für Deine interessanten Recherchen, einen großen Dank ebenfalls für die Bilder. Das Titelbild des chinesichen Puppentheaters ist im Dietzenbacher Historischen Museum bei der Puppenausstellung im September 25, kreiert von Frau Neidinger, entstanden.