Du betrachtest gerade Bewusstseinserweiterung, Grenzen, Selbstversuche; die dunkle Seite des Dr. Jekyll

Am 29. März 2025 wurde das Musical Jekyll & Hyde von Steven Cuden/Frank Wildhorn zum letzten Mal am Staatstheater Darmstadt aufgeführt – eine Geschichte, die nicht nur um das Zusammenspiel von Gut und Böse dreht, sondern auch spannende Fragen zur menschlichen Natur aufwirft. (Lesen Sie dazu gerne auch unseren Kommentar zu Jekyll und Hyde). Ein neuer Aspekt dazu fiel einem Leser ein, der beim Durchblättern des UniWehrsEL auf die Beiträge „Albert Hofmann, LSD und die Wiederentdeckung des Psychedelischen“ und „Oliver Sacks, Zeit des Erwachens“ stieß. Unserem Leser geht es dabei um die Rolle von Drogen in Selbstversuchen.

Liebe Blogleser,

Gerade habe ich Ihre interessanten Beiträge zu Hofmann und auch über Oliver Sacks gelesen. Nicht nur Hofmann, sondern auch Oliver Sacks („Zeit des Erwachens“), ging es um Selbstversuche mit verschiedenen Drogen. Dazu gehörten bei Sacks auch Cannabis, LSD oder Morphium. Der Mediziner und Bestseller-Autor beschreit dies in seinem 2013 erschienenen Buch „Drachen, Doppelgänger und Dämonen„.

Der Selbstversuch: Wissenschaft oder Selbstzerstörung?

Dr. Jekyll verfolgt eine faszinierende, aber zugleich riskante Mission: Er möchte das Böse im Menschen eliminieren. Doch sein Vorhaben wird vom Gremium des St. Jude Hospital abgelehnt. Die Ablehnung lässt ihn nicht verzweifeln, sondern treibt ihn dazu, sich selbst als Versuchsobjekt zu nutzen. Sein Mittel? Ein selbstkreierter Chemikalien-Cocktail, der seine Persönlichkeit spalten soll.

Diese Vorgehensweise erinnert stark an Albert Hofmann, den Entdecker von LSD, der 1943 ebenfalls mit psychoaktiven Substanzen experimentierte. Hofmanns Entdeckung veränderte die Wahrnehmung vieler Menschen – ähnlich wie Jekylls Serum seine Realität auf den Kopf stellt. Während LSD von vielen als Mittel zur Bewusstseinserweiterung angesehen wird, führt Jekylls Droge zur Erschaffung eines dunklen Alter Egos: Mr. Hyde.

Goethes Ballade Der Zauberlehrling handelt von einem jungen Lehrling, der sich überschätzt und sich ohne die nötige Reife oder Kontrolle an die Magie wagt. Während sein Meister abwesend ist, nutzt er eine erlernte Zauberformel, um einen Besen zum Wassertragen zu bringen. Doch als der Lehrling merkt, dass er die magische Kraft nicht stoppen kann, gerät die Situation außer Kontrolle. Die Parallelen zwischen Dr. Jekylls Experiment und Goethes Zauberlehrling sind faszinierend. Beide Charaktere streben nach Erkenntnis und Kontrolle, doch unterschätzen die Konsequenzen ihres Handelns. Der Zauberlehrling entfesselt magische Kräfte, die er nicht mehr bändigen kann – genauso wie Jekyll mit seinem Serum eine dunkle Seite in sich freilegt, die ihn schließlich übermannt.

Ein ähnliches Prinzip lässt sich bei Albert Hofmanns Entdeckung von LSD beobachten. Hofmann synthetisierte die Substanz 1938, erkannte jedoch erst 1943 ihre psychoaktive Wirkung, als er versehentlich eine Dosis aufnahm. Sein berühmter „Bicycle Day“ am 19. April 1943 markiert die erste bewusste LSD-Erfahrung: Er fuhr mit dem Fahrrad nach Hause und erlebte eine intensive veränderte Wahrnehmung. In gewisser Weise ähnelt dies Jekylls Selbstexperimenten – beide überschreiten die Grenzen des Bewusstseins, ohne genau zu wissen, welche Auswirkungen dies haben wird.

Bewusstsein und Charakter: Wie Substanzen die Persönlichkeit beeinflussen

Das Musical stellt eine spannende Frage: Bringt der Drogencocktail nur die bürgerliche Fassade von Dr. Jekyll zum Einsturz, oder verändert er ihn tatsächlich? Jekyll selbst glaubt, dass sein Experiment lediglich die dunkle Seite in ihm freisetzt – doch ist Mr. Hyde wirklich eine unabhängige Person, oder war dieses „Böse“ immer schon ein Teil von ihm?

Studien zeigen, dass Substanzen wie LSD, Alkohol und andere Drogen tiefgreifende Persönlichkeitsveränderungen bewirken können. Sie lösen unterdrückte Emotionen aus, hemmen moralische Barrieren und können bestehende Eigenschaften verstärken oder gar neue hervorbringen. Jekylls Serum funktioniert ähnlich: Es ermöglicht ihm, seine dunklen Wünsche ohne Schuldgefühle auszuleben.

Von Jekyll bis Huxley: Drogen als Tor zur Selbsterkenntnis?

Dr. Jekyll reiht sich in eine faszinierende Tradition literarischer Figuren ein, die Drogen als Mittel zur Selbsterkenntnis oder Transformation nutzen. Ein prominentes Beispiel ist Sherlock Holmes, der in Arthur Conan Doyles Geschichten gelegentlich Kokain konsumiert, um seine geistige Schärfe zu steigern. Während Holmes die Droge als Werkzeug für seine Arbeit betrachtet, nutzt Jekyll seinen chemischen Cocktail, um die Grenzen der menschlichen Natur zu erforschen – mit weitreichenderen und gefährlicheren Konsequenzen.

Ein anderes Beispiel ist Aldous Huxleys Roman Schöne neue Welt, in dem die Droge „Soma“ verwendet wird, um die Bevölkerung in einem Zustand künstlicher Zufriedenheit zu halten. Im Gegensatz dazu ist Jekylls Serum kein Mittel zur Unterdrückung, sondern zur Freisetzung – es bringt das Verborgene ans Licht, anstatt es zu verschleiern. Ein drittes Beispiel ist die Figur von Lucy in Die Pforten der Wahrnehmung von Aldous Huxley. Hier beschreibt Huxley seine eigenen Erfahrungen mit Meskalin, einer psychedelischen Droge, die ihm neue Perspektiven auf die Realität eröffnete. Während Huxley die Droge als Mittel zur Erweiterung des Bewusstseins und zur spirituellen Erleuchtung betrachtete, steht dies im Kontrast zu Jekylls Serum, das die dunklen und unkontrollierten Aspekte der menschlichen Natur freisetzt.

Was all diese Figuren verbindet, ist die Frage nach den Grenzen und Gefahren des menschlichen Strebens nach mehr – sei es Wissen, Freiheit oder Kontrolle. Jekylls Geschichte hebt sich jedoch durch die moralische und existenzielle Tiefe ab, die sie in die Dualität von Gut und Böse einbettet.

Sehnsucht nach der Auslöschung des Bösen – oder nach Freiheit?

Warum verspürt Dr. Jekyll diese Sehnsucht, das Böse im Menschen zu eliminieren? Ist es reiner Altruismus, oder steckt ein persönliches Bedürfnis dahinter? Vielleicht fürchtet er sich vor seinen eigenen dunklen Impulsen und hofft, sich selbst von ihnen zu befreien. Doch ironischerweise führt ihn sein Experiment genau in die entgegengesetzte Richtung: Statt das Böse zu vernichten, gibt er ihm freien Raum zur Entfaltung.

Die zentrale Frage bleibt: Steckt nicht in jedem Menschen ein „Mr. Hyde“ – eine Seite, die gesellschaftlichen Normen widerspricht? Der wahre Horror in Jekyll & Hyde besteht nicht nur in der Verwandlung, sondern in der Erkenntnis, dass Hyde immer schon in Jekyll existierte. Das Serum hat ihn nicht erschaffen, sondern lediglich die Tür geöffnet.

Warum scheitert Jekylls Selbstexperiment?

Dr. Jekylls Drogenexperiment endet tragisch, weil es die dunkle Seite seiner Persönlichkeit entfesselt, die er nicht mehr kontrollieren kann. Sein Ziel, das Böse im Menschen zu eliminieren, schlägt fehl, da er stattdessen das Böse in sich selbst verstärkt. Mr. Hyde, sein Alter Ego, wird immer mächtiger und beginnt, Jekylls Leben zu dominieren.

Die Tragik liegt darin, dass Jekylls wissenschaftlicher Ehrgeiz und sein Wunsch, die menschliche Natur zu verbessern, ihn letztlich zerstören. Er verliert die Kontrolle über seine Experimente und über sich selbst, was zu einer Spirale aus Gewalt und Selbstzerstörung führt. Das Experiment zeigt, wie gefährlich es sein kann, die Grenzen zu überschreiten, ohne die Konsequenzen vollständig zu verstehen. Das gilt auch für Goethes Zauberlehrling oder den Chemiker Albert Hoffmann der am Bicycle Day durch Zufall LSD erfand.

Fazit: Das fragile Gleichgewicht der menschlichen Natur

Das Musical Jekyll & Hyde zeigt eindrucksvoll die Zerbrechlichkeit des Menschen. Drogen können eine Fassade zerstören, doch die darunterliegenden Impulse und Wünsche existieren unabhängig davon. Dr. Jekylls Experiment bringt eine unbequeme Wahrheit ans Licht: Jeder Mensch trägt Licht und Schatten in sich, und manchmal braucht es nur einen Tropfen eines Serums, um das Gleichgewicht ins Wanken zu bringen.

und Nachklapp: Ein Tropfen Zeit – Ein faszinierender Stoff mit dem Daphne du Maurier, die Grande Dame der englischen Erzählkunst, ihre Leser in Atem hält. Als sie diesen Roman Ende der Sechszigerjahre geschrieben hat, spielte sie gekonnt auf die damalige In-Droge LSD an. „Magnus Lane, Professor der Biophysik in London, hat ein ausgefallenes Hobby: Er experimentiert heimlich mit einer Zeitdroge. Sein Freund und Vertrauter, der Schriftsteller Richard Young, stellt sich für seine Versuche zur Verfügung. In einem abgelegenen Landhaus in Cornwall geschieht das Unfassbare: Young wird für Stunden in eine andere Welt versetzt und Augenzeuge von Ereignissen, die um Jahrhunderte zurückliegen … „

Danke für das gespenstische Bild von Branden Ponschke auf Pixabay