Du betrachtest gerade Kommentar zu „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“

Der Kulturbotschafter des UniWehrsEL hat uns Anregungen zu einem Stück gegeben, das im Staatstheater Darmstadt zu sehen ist. Es handelt sich um Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Wir freuen uns über einen Kommentar, den wir gerne aufgreifen und auch weiterleiten werden. Danke, dass Sie uns Ihre Meinung schreiben! Der Beitragschreiber dankt unserem Kulturbotschafter für seinen Beitrag im UniWehrsEL. Auch er habe das Stück gesehen und möchte es gerne kommentieren. Darüber freuen wir uns!

Liebes UniWehrsEL,

Das klassische Bild vom guten Dr. Jekyll und dem bösen Mr. Hyde sehe ich hier nicht. Dr. Jekyll ist eine absolut auf seine Forschung konzentrierte Persönlichkeit, welche die Hilfe anderer Menschen gar nicht wahrnimmt. Dies ist zumindest in der Musicalversion von Steve Cuden & Frank Wildhorn klar erkennbar. Um diese These zu beweisen, ein paar Beispiele aus dem Stück. Dr. Jekyll hat gleich drei Personen, die sich um sein Wohlergehen sorgen. Da ist als erstes seine Verlobte Lisa Carew. Sie fängt ihn, nachdem sein Forschungsantrag gescheitert ist, moralisch auf. Sie will ihn trotzdem heiraten, obwohl seine berufliche Zukunft durch die Ablehnung der Forschungsgelder äußerst unsicher ist. Warum? Weil sie an sein Genie glaubt. Die Figur der Lisa ist ein klassisches Rollenbild der Frau des 19. Jahrhunderts. Sie stellt ihre eigenen Bedürfnisse zurück und in den Dienst des genialen Mannes, der aus seiner Sicht die Welt retten will. Im Fall von Dr. Jekyll will der Mann das Böse gänzlich auslöschen.

Statt diesen Ansatz kritisch zu hinterfragen oder sogar spöttisch zu kommentieren, ist Lisa absolut auf seiner Seite. Was Dr. Jekyll sich ausdenkt, kann nur als absolut richtig empfunden werden, Zweifel an Dr. Jekyll gibt es nicht. Mit totaler Hingabe wird der Mann unterstützt. Auch wenn dies in der Praxis seine Abwesenheit bedeutet. Dr. Jekyll verbringt seine Zeit nicht mit Lisa, sondern vorwiegend in dunklen Kellern, wo er, wie einst der Faust, irgendwelche mystischen Getränke zusammenbraut.

Es ist schon bemerkenswert, dass dieses Frauenrollenbild aus dem 19. Jahrhundert – aus dem Figuren wie z.B. Hedda Gabler auszubrechen versuchen, so völlig unreflektiert ernst aufgegriffen wird. Und das in einem Musical, was doch als moderner gilt, als die angeblich verstaubte Operette, wie z.B. „Im weißen Rössl“. Im weißen Rössl äußern die Frauenfiguren klar ihre Meinung und fordern ihren Platz an der Seite des Partners ein. So z.B. die Wirtin Josepha, die nicht sofort auf die plump-naiven Anmachversuche ihres Oberkellners Leopold eingeht, oder Klärchen die sich gegenüber ihrem Verehrer mit Sprachfehler vorstellt um ihn zu testen, ob er sie auch mit einer Schwäche als Partnerin erwählen würde. Das Singspiel im weißen Rössl ist aus 1930 und fortschrittlicher in seinen Frauenbildern als das Musical von 1997! Um die tägliche Lebensführung kümmern sich andere, wie z.B. ein Butler. Übrigens hat Dr. Jekyll etwas mit der Comicfigur „Batman“ gemeinsam. Auch dieser will das Böse auslöschen.

Die zweite Figur, die Dr. Jekyll bedingungslos unterstützt, ist der Rechtsanwalt und gute Freund Gabriel John Utterson. Dieser ist für Durchhalteparolen wie „Kopf hoch“ oder Warnungen wie „Ich glaube du veränderst dich gerade!“ zuständig. Auch diese Figur ist ein typisches Rollenbild aus dem 19. Jahrhundert. Der gute Freund unterstützt den Helden. Er hinterfragt seine Unternehmungen nicht. Er überblickt sie auch nicht. Doch was für ein Männerfreundschaftsbild wird in dem Musical dargestellt? Der gute Freund hört sich nicht die Sorgen von Dr. Jekyll an. Das ist die Aufgabe von der bereits erwähnten Verlobten Lisa. Sie ist mit der Seelsorge ihres Verlobten betreut. Der Freund hingegen will den Dr. Jekyll von seinen Sorgen ablenken. Dies tut er indem er mit ihm ins örtliche Bordell geht. Auch das wird wohl die Beziehung von Dr. Jekyll zu Lisa nachhaltig verändern.

Hier entdeckt der Zuschauer ein weiteres Motiv aus dem 19. Jahrhundert. Lisa die Verlobte hat quasi in der Erzählung den Status einer „Heiligen“. Lisa wird weder in seine Forschung einbezogen, noch hat sie Einfluss auf sein Privatleben, sondern nur auf den Privathaushalt. Sie hat ihn im Haushalt zu versorgen. Ob sich der „geniale“ Wissenschaftler seine Ideen dann im Bordell holt, hat Lisa zu übersehen. Seine „privaten“ Eskapaden hat sie zu dulden. Denn sie sind Teil seiner „genialen“ Persönlichkeit. Vielleicht sind es nicht die Zaubertränke im Keller, die den Dr. Jekyll verrückt werden lassen, sondern seine häufigen mehr oder minder geheimen Bordellbesuche, die ihn zu Mr. Hyde werden lassen. Schließlich greifen auch die Bordellerfahrungen in das Wesen der Person Dr. Jekyll tief ein.

Bei seinem ersten Bordellbesuch trifft Dr. Jekyll auf die Hure Lucy Harris. Für Lucy wird Dr. Jekyll zum Rettungsanker. Das Musical erzählt wieder eine klassische Märchengeschichte. Lucys Beziehung zu Dr. Jekyll ist die Geschichte vom weißen Ritter, der die Jungfrau in Nöten rettet. Lucy wird, wie der Zuschauer erfährt, von dem Bordellbesitzer bedrängt und gequält. Sie sieht in Dr. Jekyll ihren Retter. Dr. Jekyll kommt zu ihr um sie zu ‚verarzten‘, wenn der böse Mr. Hyde Lucy misshandelt hat. Da erkennt der Zuschauer ein weiteres Motiv aus dem 19. Jahrhundert, die Verleugnung von Sex. Der gute Arzt Dr. Jekyll ist ein asexuelles Wesen. Er hat weder Sex mit seiner Verlobten Lisa, noch mit der Hure Lucy. Mit Lisa nicht, weil er vorher seiner Mission, das Böse auszurotten, nachgeht. Mit Lucy nicht, weil diese von Mr. Hyde so zugerichtet worden ist, dass sie für einvernehmlichen Sex nicht bereit ist. Seine Sexualität lebt also Dr. Jekyll nicht in seiner Beziehung mit Lisa oder Lucy aus, sondern in seiner erfundenen Identität als Mr. Hyde. In der Rolle des Mr. Hyde kann er seinen Trieben nachgehen. Sexualität ist also in diesem Musical etwas Verdorbenes, etwas Rohes, was im Geheimen im Bordell stattfindet.

Das ist genau die Denkweise des 19. Jahrhunderts, welche der Frau ihre Sexualität abspricht, zumindest in der Liebesbeziehung als ‚Heilige Lisa‘. Gelebt wird Sexualität nur mit der Hure Lucy, welche außerhalb der Gesellschaft steht. Lucy hat, außer ihrer sexuellen Anziehungskraft, keine Funktion im Leben des Mr. Hyde. Weder Dr. Jekyll noch Mr. Hyde führen ernsthafte Gespräche mit Lucy. Ist Lucy überhaupt ein Mensch für die beiden Persönlichkeiten? Für Dr. Jekyll ist Lucy ein Opfer, welches versorgt werden soll. Für Mr. Hyde nur ein Gegenstand, der benutzt wird. 

Nun komme ich auf das Thema Rache zurück. Dr. Jekyll findet sich selbst zu schwach, um nach der Ablehnung seines Forschungsauftrags einen weiteren Versuch bei den Geldgebern zu starten. Anstatt sein Konzept zu verbessern, verwandelt er sich in den Racheengel Mr. Hyde. Dieser geht nicht nur seinen perversen sexuellen Neigungen nach, sondern nimmt auch Rache an dem Gremium, was seinen Dr. Jekyll verschmäht hat. Dabei folgt er einem recht einfachen Plan. Mr. Hyde überfällt die Menschen im Gremium bei Nacht und tötet sie. Dies ist kein schöner Wesenszug. Wer mag schon einen Mörder oder Egomanen als Titelhelden in einem Musical? Daher muss der Mord irgendwie gerechtfertigt werden.

Damit das Publikum auf der Seite des Mörders ist. Mr. Hyde muss also in die Rolle des Robin Hood oder des Querdenkers gelangen. Dies schafft das Drehbuch, indem der Bischof, der von Mr. Hide umgebracht wird, als Kinderschänder enttarnt wird. Ein angedeuteter Kinderschänder ist so unmoralisch, dass er von einem Rächer getötet werden kann. Denn der Rächer befreit die Gesellschaft von einem Menschen, der sich an Kindern vergeht. Da dieser Mord so betont wird übersieht der Zuschauer leicht, dass es für die anderen Morde eigentlich keine Rechtfertigung gibt. Mr. Hyde ist schlicht ein Massenmörder, der aus niederen Motiven Rache, wegen einer gefühlten Verschmähung seines Projekts, nimmt.

Zur Persönlichkeit von Dr. Jekyll ist zu sagen, dass er die ideale Rolle des Männerverständnisses aus dem 19. Jahrhundert verkörpert. Er konzentriert sich auf ein ehrenwertes Ziel: Ausrottung des Bösen und ist ein Abenteurer. Sei es in seinem Labor oder im Bordell. Er rechtfertigt sich nicht für seine Taten und hält sich selbst für den Mittelpunkt der Welt. Er denkt nicht über sein Handeln nach, ist nicht selbstreflektiert, sondern geht seinen Weg unbeirrt. Er fühlt sich alleine und dass, obwohl ihn zwei Frauen und ein bester Freund zur Seite stehen. Er verbirgt seine Absichten vor der Welt, nachdem er von der Gesellschaft aus seiner Sicht verschmäht worden ist. Positiv an dem Musical ist, dass es keinen Versuch unternimmt, Dr. Jekyll mit Lisa ein Happyend zu gewähren. Dr. Jekyll enttarnt sich selbst auf seiner Hochzeit als Mr. Hyde. Spätestens an diesem Zeitpunkt erlischt die Unterstützung seiner Verlobten. Sie wird von ihm entführt. Die Hure Lucy wurde vorher von Mr. Hyde in einem Wutausbruch über den vermeintlichen Rivalen Dr. Jekyll erwürgt. Das zeigt noch einmal deutlich, dass sich Dr. Jekyll auf einem Egotrip befindet. Er rechtfertigt seine Taten vor sich selbst als Mr. Hyde.

An dieser Stelle zeigt sich, dass das Musical aus 1997 stammt. In 1997 gab es eine Restmoral. Deshalb gibt es für Dr. Jekyll kein Happyend. Das wäre zu unmoralisch. Das galt für die 2000er Jahre nicht. Hier kommt z.B. der mordende Investmentbanker Patrick Bateman aus dem Film „American Psycho“ (ich zeigte meine Meinung darüber schon bei Sissi reloaded) von 2000 ohne moralischen Kompass mit den Morden an Obdachlosen, Prostituierten einfach so durch, weil er reich ist. Übrigens mordet Patrick Bateman nicht aus einem edlen Motiv wie Ausrottung des Bösen, wie die Figur Dr. Jekyll, sondern aus Langeweile, eigenem Spaß. Was macht Bateman böse? Dass ein Konkurrent eine schönere Visitenkarte hat als er oder einen modischeren Anzug. Dieser ‚Batman‘ rächt sich auch an der Gesellschaft für vermeintlich erlittenes Unrecht, z.B. wenn die Reservierung im Nobelrestaurant nicht klappt. Die Botschaft des Films: reiche Menschen können sich alles erlauben, auch einen Mord aus Lust.

Auch Dr. Jekyll lebt in äußerst vermögenden Verhältnissen in einer Villa und hat sein Privatlabor. Der Alltag tangiert ihn, aufgrund seines Vermögens, nur wenig bzw. gar nicht. Die Prostituierte Lucy ist von seinen Geldzuwendungen abhängig. Ihr aus ihrer Lage zu helfen, fällt Dr. Jekyll nicht ein. Denn er hat schließlich seine Mission.

Was ist das Böse? Ist es böse einer Frau nicht aus dem Bordell zu helfen, indem sie unfreiwillig lebt? Im Denken des 19. Jahrhunderts hat jeder seinen Platz, so auch Lucy. Deshalb kann ihr kein sozialer Aufstieg gelingen. Mr. Jekyll kann nur die Symptome lindern, die er ihr als Hyde selbst zufügt.

Liebe Grüße an den Kulturbotschafter und weiter so!