E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann fasziniert immer wieder durch seine Thematik, in der neben Ängsten und Liebe auch Wirklichkeitswahrnehmung und Wahn eine Rolle spielen. Wir berichteten im UniWehrsEL darüber. Die Regisseurin Lilja Rupprecht hat am Schauspiel Frankfurt aus Hoffmanns Vorlage eine kompakte Bühnenfassung erstellt (Spieldauer: 90 Minuten ohne Pause). Auch die Künstlerin
Marina Linares thematisiert die Erzählung vom Sandmann in ihrem Beitrag Die Puppe als Objekt für Schaulust, Angst und Todesfaszination (in denkste:puppe 1/121, 126–133). Sie greift damit die phantastische Beschreibung einer psychopathologischen Entwicklung in einem klassischen Text der Puppenmotivforschung auf (Insa Fooken, Jana Mikota 2021). Sie fokussiert dabei unter anderem auf die Bedeutung der Doppelgänger-Thematik.

Das Doppelgängermotiv erscheint in Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann”. Sie erschien 1816 als erste Erzählung im ersten Teil des Sammelbandes Nachtstücke. Der Anfang wurde in reiner Briefform verfasst
und beginnt mit einem sonderbaren Brief des jungen Studenten Nathanael an Lothar, den Bruder seiner Verlobten Clara. Der Brief erzählt von einer schrecklichen Begegnung des Studenten mit einem Wetterglashändler, der ihn aufgesucht hatte, um ihm seine Ware anzubieten. Doch Nathanael schickte ihn weg, drohte ihm, wenn er nicht gehen würde und der Mann ging von selbst. Im Rückblick auf seine Kindheit wird klar, warum diese Begebenheit so traumatisch war.
“Der Sandmann” von E.T.A. Hoffmann mit Bezügen zu C. G. Jung, dem Schatten und Doppelgängern.
Der Sandmann (1821) liefert als Grundidee eine erzählerische Struktur mit Innen- und Außensicht, zwischen Narrator und Realität, sowie verschobener Wahrnehmung. Sein zentrales Motiv ist der Sandmann als unheimliche Figur, die Sehnsucht, Angst und Wahnsinn zugleich symbolisiert.Das Motiv des Doppelgängers und der damit verbundenen Identität offenbart: Nathanaels innere Konflikte spiegeln sich in äußeren Figuren (Spiegelungen, mechanische Augen, der Sandmann als projectives Symbol).
Jungsche Perspektive ( archetypische Muster, Schatten, Individuation):
- Schatten: Der Schatten entspricht bei Jung jenem unbewussten Anteil, der dem Bewusstsein entgegengesetzt ist. In Hoffmanns Erzählung manifestiert sich der Schatten in Figuren wie Coppelius/Coppola und dem unheimlichen Blick des Sandmanns. Diese Figuren bündeln verdrängte Ängste, Aggressionen und erotische Sehnsüchte Nathanaels. Sie verkörpern das Verdrängte, das im Bewusstsein projektiv auftaucht.
- Doppelgänger/Selbstbild: Die Dopplung Nathanaels mit seinen vermeintlichen Riesenfiguren (Spukfiguren, Augen) entspricht dem Jung’schen Doppelgänger- bzw. Animus/Anima-Motiv, wobei der Protagonist sich in Spiegeln, Automaten oder anderen Personen wiedererkennt, aber die eigene Identität verliert.
- Schattenarbeit und Individuation: Statt eine integrative Selbstwerdung zu vollziehen, verliert Nathanael sich im kindlichen Trauma und in seinen Projektionen. Jung würde das als fehlende Integration des Schattens interpretieren, wodurch der Novellenheld in wahnhafte Strukturen abrutscht.

Traum und Unbewusstes zeigen sich in alptraumhaften Szenen, die imaginierte Augen und die metalllische Apparate, (z. B. bei Coppelius) enthalten (lesen Sie dazu auch unseren Beitrag zu „Nachtstück, Narzissmus und „Der Sandmann“).

Ist der Protagonist psychisch krank? Eine einfache Diagnose passt hier nicht vollends. In der Jung’schen Lesart spricht man eher von einer schweren Störung der Individuation und einer gestörten Integration des Schattens. Nathanaels Orientierung an äußeren, idealisierten Projektionen (wie Olympia) statt an einer integrierten Selbstwahrnehmung führt zu Wahnsinn und Realitätsverlust. Die Geschichte zeigt eine extreme Krisensituation psychischer Konflikte, die man psychisch krank nennen könnte, jedoch ist es literarisch aufgebaut, um den Konflikt zwischen bewusster Vernunft und unbewussten Archetypen sichtbar zu machen. Kurz: Spiegelungen fungieren als Mittel, um innere Prozesse sichtbar zu machen; Nathanaels Zustand reflektiert eine schwere Störung der Ich-Integrität, nicht einfach eine medizinische Diagnose.
· Zentrale Motive im Licht von Jung:
- Augen/Sehen: Augen stehen als Symbol für Erkenntnis, Wissen und zugleich das Täuschende. Die unzuverlässige Wahrnehmung Nathanaels spiegelt den Konflikt zwischen Bewusstsein und Schatten wider.
- Automata/Technik: Der mechanische Spiegel, der als „Sandmann“ fungiert, repräsentiert die Entfremdung des Subjekts durch Technik und Symbolisierung von Rationalität, die letztlich Angst und Kontrollverlust hervorruft.
- Liebe/Beziehung: Die Beziehung zu Olimpia wird zur Projektion des unbewussten Wunschbilds; Olimpia ist eine Puppe, die Nathanael in seiner Fantasie humanisiert, bis die Realität sie entlarvt. Jung würde dies als Projektion des eigenen Selbst auf das Objekt sehen.
Beobachtungen zur Struktur und Entwicklung:
- Von Realem zu Irrationalem: Die Erzählung bewegt sich von einer scheinbar realistischen Welt in eine traumartige, un-sichere Sphäre. Diese Entwicklung spiegelt den Prozess wider, durch den der Mensch unbewusste Inhalte integriert oder verdrängt.
- Konflikt zwischen Vernunft und Phantasie: Nathanaels Weltsicht wird durch rationale Erklärungen erschüttert; die Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn verschwimmt. Jung betont hier den inneren Konflikt des Individuums, das mit archetypischen Bildern agiert, die nicht rational zu deuten sind.
Hoffmanns Geschichte lässt sich gut durch eine Jungsche Linse lesen: als Darstellung des Unbewussten, das sich durch Schatten, Doppelgänger und unheimliche Wächterfiguren Bahn bricht. Der Text zeigt, wie die Integration des Schattens scheitern kann, wenn die bewusste Identität an der Grenze zwischen Realismus und Traum scheitert.

Marina Linares: „Eine multiperspektivische Betrachtung oder: E. T. A. Hoffmann – ein höchst moderner Tiefenpsychologe„
Linares fokussiert auf die die innere Entwicklung des Protagonisten in Hoffmanns Erzählung und erläutert die Vielschichtigkeit seelischer Prozesse, die sie in tiefenpsychologischen Konzepten als eher dynamisch, in anderen eher als strukturell (als figurativ darstellbare Instanzen) begreift. So lasse sich Freuds Modell mit den Instanzen Es, Ich und Über-Ich, bezogen auf die Hoffmannsche Erzählung übertragen. So sei das Über-Ich mit der libido-kontrollierenden Macht des Sandmanns und der kindlichen Angst vor Verlust der Augen assoziierbar.
Die psychodynamische Konzeption nach C. G. Jung exponiere die im kollektiven Unbewussten verwurzelten Archetypen. Nach dieser Lesart wäre die künstliche Figur Olimpia als Archetypus der ‚Anima‘ (als Ideal), zugleich als Schatten der realen Verlobten Clara zu deuten. Nathanael projiziere, so Linares, in seiner Beziehung zur Puppe Olimpia – sei es als Anima oder als sonstiges ‚Objekt‘ zur Triebbefriedigung – sein Inneres auf leblose Materie, welche so von ihm ‚beseelt‘ würde.
Weiter beschreibt sie am Beispiel Nathanaels psychische Störungen, die denen von Neurotikern oder Schizoiden gleiche. So eskaliere Nathanaels gestörte Kommunikationsweise im Dialog mit Clara gemäß Watzlawick, Beavin u. Jackson (2007) in symmetrischer Form, hingegen im Monolog vor Olimpia in komplementärer Form und gipfele in der absoluten folie à deux von Mensch und Automatenpuppe.
Insbesondere bei starker Imagination oder neurotischer Anlage könnten zudem Projektion und Dissoziation gekoppelt sein, als hoch ambivalente und damit gegenläufige Empfindungen. Dabei würden dissoziierende Menschen von ihren Mitmenschen als automatenhaft und seelenlos handelnd erlebt. Projizierende füllten dieses Vakuum mit ihrer Phantasie aus. An Formen der Dissoziation, die oft im Zusammenhang mit Abwehrmechanismen und mit früheren Traumata steht, erinnerten Nathanaels akute Wahnausbrüche.
Herzlichen Dank an Pixabay und an ChatGPT mit dessen Hilfe, aufgrund vorgegebenen Prompts, die beeindruckenden Bilder entstanden sind!
