Im Seminar „Nur wer die Sehnsucht kennt …“ betrachteten wir die Ausführungen des Arztes und Literaturkenners Eberhard Binieks zu Gottfried Benn, dem bedeutenden deutschen Dichter, Arzt und Essayist, der am 2. April 1886 in Berlin geboren wurde und am 7. Juli 1956 in Heidelberg verstarb. Er gilt als einer der wichtigsten Vertreter des Expressionismus in der deutschen Literatur. Benn war bekannt für seine kraftvolle, oft kontroverse Sprache und seine Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten des Lebens, der menschlichen Psyche und der Gesellschaft. Seine Gedichte sind geprägt von einer intensiven Bildsprache, einer kritischen Haltung gegenüber der modernen Welt und einem tiefen Interesse an den Abgründen des Menschen. Neben seiner literarischen Arbeit war Benn auch Arzt, was sich in manchen seiner Texte widerspiegelt, insbesondere in seiner Beschäftigung mit Krankheit, Tod und dem menschlichen Körper. Seine Werke haben einen bedeutenden Einfluss auf die moderne Literatur und werden bis heute viel gelesen und diskutiert.
Liebe UniWehrsEL Leser,

nach unserer letzten Stunde, in der wir uns mit Eberhard Binieks Ausführungen zu Benn und seinen Beziehungen zu Kokain, als Mittel zur Flucht aus einem als unerträglich empfundenen Alltag beschäftigt haben, war meine Intension, noch ein wenig weiter zu forschen.
Das Gedicht „Kokain“ von Gottfried Benn ist ein eindrucksvolles Beispiel für seine expressionistische und oft kontroverse Dichtung. Es beschreibt die Wirkung und die Faszination des Kokains, wobei Benn die Sucht, die Verlockung und die zerstörerische Kraft des Stoffs thematisiert. Das Gedicht spiegelt die dunkle Seite der menschlichen Seele wider und zeigt Benns Interesse an den Abgründen des Lebens und der Psyche.
Cocain
Den Ich-zerfall, den süssen, tiefersehnten,
Den gibst Du mir: schon ist die Kehle rauh,
Schon ist der fremde Klang an unerwähnten
Gebilden meines Ichs am Unterbau.
Nicht mehr am Schwerte, das der Mutter Scheide
Entsprang, um da und dort ein Werk zu tun
Und stählern schlägt –: gesunken in die Heide,
Wo Hügel kaum enthüllter Formen ruhn!
Ein laues Glatt, ein kleines Etwas, Eben–
Und nun entsteigt für Hauche eines Wehns
Das Ur, geballt, Nicht-seine beben
Hirnschauer mürbesten Vorübergehns.
Zersprengtes Ich – o aufgetrunkene Schwäre –
Verwehte Fieber – süss zerborstene Wehr –:
Verströme, o verströme Du – gebäre
Blutbäuchig das Entformte her.
Gottfried Benn (1917)
In „Kokain“ beschreibt Benn die berauschende Wirkung des Stoffs, die zunächst verführerisch wirkt, aber letztlich zerstörerisch ist. Das Gedicht vermittelt eine Atmosphäre von Verführung, Gefahr und innerer Zerrissenheit, was typisch für Benns Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten des Menschen ist.
Benn und Morphium

Benn, so Biniek, habe nie Morphium konsumiert, weil er zu seiner sterbenden Mutter gerufen wurde und ihr Morphium geben wollte. Der Vater war dagegen. So kam die spannende Dieskussion auf: Welche ödipale Situation dadurch entstanden sei.
Die Situation, in der Benn seiner Mutter Morphium geben wollte, während sein Vater dagegen war, könnte auf eine Art Konflikt oder Spannung innerhalb der Familie hinweisen. In psychoanalytischer Sicht, insbesondere im Kontext des Ödipuskomplexes, geht es um die unbewussten Gefühle und Rivalitäten zwischen Elternteilen und das Verlangen nach der elterlichen Zuneigung.
In diesem Fall könnte man interpretieren, dass Benn eine Art innere Spannung oder Konflikt zwischen den beiden Elternteilen erlebt hat. Der Wunsch, seiner Mutter zu helfen, könnte auf eine Nähe oder Bindung hinweisen, während der Widerstand seines Vaters auf eine mögliche Rivalität oder Ablehnung hindeuten. Diese Dynamik könnte unbewusst in Benns Psyche verankert sein und sich in seinen Werken oder seinem Verhalten widerspiegeln.
Gerne möchte ich betonen, dass meine Interpretationen durchaus spekulativ sind und nur einige mögliche Blickwinkel bieten.
Psychoanalytische Betrachtung von Gottfried Benns Leben
Gottfried Benn wuchs in einer Zeit auf, die von gesellschaftlichen Umbrüchen und persönlichen Herausforderungen geprägt war. Seine Erfahrungen und Beziehungen könnten aus psychoanalytischer Sicht bestimmte unbewusste Konflikte und Motive widerspiegeln. Benns oft schonungslose Darstellung des menschlichen Leids könnte ein Ausdruck von verdrängten eigenen Ängsten oder inneren Konflikten sein. Seine Kunst könnte eine Art Abwehr sein, um mit unbewussten Themen wie Sterblichkeit, Schmerz oder Schuld umzugehen.
Der Konflikt zwischen Leben und Tod ist allumfassend. Er manifestiert sich in Benns düsteren und oft makabren Themen. Seine Beschäftigung mit Krankheit, Tod und Verfall könnte auf eine tief verwurzelte Auseinandersetzung mit Endlichkeit und Vergänglichkeit hinweisen. Psychoanalytisch könnte dies auf eine unbewusste Angst vor dem eigenen Tod oder eine Faszination für das Unbewusste hindeuten.
Familie und Ödipuskomplex kommen zum Tragen, wenn man an die Spannungen zwischen Benns Eltern denkt, insbesondere im Zusammenhang mit der oben erwähnten Morphium-Geschichte. Nicht nur, dass Konflikte unbewusst in Benns Psyche nachgewirkt haben könnten, auch die von ihm erlebte Spannung zwischen den Elternteilen könnte sich in der Suche nach Anerkennung und Liebe manifestiert haben. Die enge Bindung an die Mutter, die in der Morphium-Geschichte sichtbar wird, könnte auf eine starke mütterliche Präsenz hinweisen. In der Psychoanalyse wird die Mutter oft als erste Bezugsperson gesehen, die sowohl Liebe als auch Kontrolle repräsentiert. Ein Konflikt zwischen Autonomie und Abhängigkeit könnte sich in Benns Leben widerspiegeln.

Benn war ein kontroverser Dichter, der sich selbst als „Arzt des Todes“ sah. Diese Selbstbezeichnung könnte auf eine unbewusste Identifikation mit dem Tod oder eine Faszination für das Dunkle hinweisen, was wiederum auf tiefere psychische Prozesse wie das Bedürfnis nach Kontrolle oder das Akzeptieren eigener Schattenseiten deuten könnte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Benns Leben und Werk durch eine komplexe Psyche geprägt sind, in der unbewusste Konflikte, Ängste und Faszinationen eine Rolle spielen. Seine Beschäftigung mit Tod und Krankheit könnte sowohl Ausdruck persönlicher innerer Kämpfe als auch eine kreative Verarbeitung dieser Themen sein. Gottfried Benn war nicht nur ein bedeutender deutscher Dichter, sondern auch ein bekannter Arzt. Seine Werke beschäftigen sich oft mit den dunkleren Seiten des Lebens, der menschlichen Existenz und dem Körper. Seine Arbeit als Arzt und seine Beobachtungen im militärischen Umfeld trugen dazu bei, seine kritische und oft schonungslose Sicht auf die menschliche Natur zu formen.
Benn war „Der Arzt, der Gedichte schrieb„, wie man in „SchirnMag“ nachlesen kann und zudem auch ein Herzensbrecher. „Ausgerechnet an ihn verlor Mopsa (Sternheim) ihr Herz und ihren Verstand – doch Benn blieb eiskalt. Eine kurze Affäre mit Mopsa reduzierte er mit harschen Worten auf ihren alleinigen sexuellen Charakter. Mit dem Gefühl der unerwiderten Liebe und in Begleitung von Erika und Klaus Mann taumelte Mopsa im Kokain- und Morphinrausch durch Berlin und den eigenen Schmerz, den man in dieser Großstadt an der Spree zwar mit unzähligen Mitteln überdecken und betäuben konnte, doch früher oder später kam das nüchterne Erwachen und alles wurde noch schlimmer“.
Mit besten Grüßen Ihr Team UniWehrsEL
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