Du betrachtest gerade Gottfried Benn, Rosen und Rausch – ein Leserbrief

„Am gefährlichsten sind die Leute mit dem bisschen Grips, die sich berufen fühlen, die Maßstäbe zu stiften und anzulegen. Soweit es bei ihnen langt – länger darf es bei niemandem langen.“ Diese eindringlichen Worte von Gottfried Benn eröffnen einen tiefen Einblick in die Komplexität seines Denkens. Haben Sie schon einmal einen Moment erlebt, in dem alles um Sie herum verschwommen ist und Sie sich in einem Zustand des Rausches befinden? Diese intensiven Gefühle sind es, welche die Menschen verbinden. Gottfried Benn, einer der bedeutendsten deutschen Dichter des 20. Jahrhunderts, beschäftigt sich in seinen Gedichten ebenfalls mit dem Thema Rausch – sowohl in seiner schönen als auch in seiner dunklen Form.

Liebe UniWehrsEL Leser, 

Mich hat der Klang der Worte von Gottfried Benn schon immer fasziniert. Dass Benns Gedichte, gerade nach dem Zweiten Weltkrieg oft wie Schlager und Gassenhauer klingen, empfindet nicht nur „Deutschlandfunkkultur“ als faszinierendes Phänomen. In den bisherigen Beiträgen im UniWehrsEL zu Gottfried Benn wurde weniger festgestellt, dass sich in seinen Versen eine Melodie entfalte, die alles in schöne, melancholisch verhangene Harmonien auflöse. Seine Strophen seien gleichmäßig geformt und folgten einem eingängigen Rhythmus, der den Leser in seinen Bann ziehe. Da ist von Blumen und Pflanzen die Rede, die als Symbole der „Seinsvergewisserung“ dienten. Besonders die Rose hat es Benn wohl angetan, und man könne sich seine Zeilen durchaus auch in einer anderen Form vorstellen – gesungen von Zarah Leander mit dunkler Stimme.

GOTTFRIED BENN „Rosen“

Wenn erst die Rosen verrinnen
aus Vasen oder vom Strauch
und ihr Entblättern beginnen,
fallen die Tränen auch.

Traum von der Stunden Dauer,
Wechsel und Wiederbeginn,
Traum – vor der Tiefe der Trauer:
blättern die Rosen hin.

Wahn von der Stunden Steigen
aller ins Auferstehn,
Wahn – vor dem Fallen, dem Schweigen:
wenn die Rosen vergehn.

Der Kritiker Michael Lentz schreibt zu Gottfried Benns Gedicht „Rosen“: „Das im Ton eines Volksliedes gehaltene Gedicht „Rosen“ entstand im Mai 1946. Als das erste Gedicht, das Benn seit Januar 1945 geschrieben hat, ist es zugleich ein resümierendes Stillleben und eine elegische Klage bar jeder metaphysischen Hoffnung.“ Ein ungewohnt sentimentaler Gottfried Benn habe am 4. Juli 1950 an Friedrich Wilhelm Oelze, den Bremer Großkaufmann, Benns wichtigstem, zeitweilig einzigem Vertrauten mitgeteilt: „Die Rosen, ja die Rosen! Meine Frau hat mir verboten, noch in einem Gedicht das Wort Rosen zu verwenden –, schade, es ist ein so schönes Wort“.

Der Deutschlandfunk hebt zudem noch die Anemone und die Eberesche hervor, die es Benn wohl angetan hätten.

Rudi Schuricke beschwöre 1943 die „Capri-Fischer“, Benn tue es mit der gleichen „Latinität“, d. h. er bezieht sich auf die kulturellen und ästhetischen Werte, die mit der antiken römischen Kultur und der lateinischen Sprache verbunden sind. In Benns Werk steht danach die Latinität für eine Rückkehr zu den klassischen Wurzeln der europäischen Kultur. Der Deutschlandfunkkultur setzt noch eins drauf, Benns Sprache sei häufig mit „Alltagsslang“ versetzt und zudem mit „Elementen des Pop“, denn er pflegte „einen schnoddrigen, coolen Gestus“. Dass Benn mit den allermeisten Deutschen gerade einen Blut-und Boden-Rausch mit Millionen Toten in Europa initiiert habe, schwinge im Untergrund zwangsläufig mit. Zitiert wird dazu als Beispiel oben angeführtes Gedicht „Rosen“.

Anders interpretiert es Michael Lentz (in  Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfunddreißigster Band, Insel Verlag, 2012): „

Bei allem Traditionsbezug des Gedichts auf Barock und Romantik war der Avantgardist Benn sich der Gefahr der gefühligen Verkitschung durchaus bewusst, die durch die nachdrückliche Verwendung eines so prominenten Symbols wie der Rose drohte. Wie aus einem Brief Benns an Oelze vom 14. Juni 1949 hervorgeht, hatte dieser das Gedicht kritisiert, es war ihm einfach zu kitschig. Von einer Aufnahme in den wichtigen Auswahlband Trunkene Flut mit Gedichten von 1912 bis 1949 riet Oelze deshalb ab. Der Dichter sprach ein höfliches Machtwort, denn schließlich war in „Rosen“ seine spezifische biographische Zeiterfahrung eingeschrieben: Trauer.“

Nun noch kurz mein Statement zur Thematisierung in Benns Gedichten:

Er beschreibt Momente der Trunkenheit, sei es durch Alkohol, Drogen oder die berauschende Natur wie in den „Rosen“. In einem seiner Gedichte heißt es: „Schäbig; abends Destille / in Zwang, in Trieb, in Flucht / Trunk – doch was ist der Wille / gegen Verklärungssucht.“ Benns Rausch scheint mit einem inneren Zwang verbunden, der ihn in den Zustand der Flucht treibt. Ist Verklärungssucht sein Versuch, der tristen Realität zu entkommen und in den Rausch zu flüchten?

Benns Rausch ist wohl ambivalent, denn er beschreibt auch die Schönheit und Intensität des Lebens, die in diesen Momenten erlebt werden kann wie in „Ein Wort“: „Ein Wort, ein Satz – aus Chiffern steigen / erkanntes Leben, jäher Sinn, / die Sonne steht, die Sphären schweigen / und alles ballt sich zu ihm hin.“ Für mich ist das ein kreativer Rausch, der deutlich macht, wie viele Facetten Benns Werk aufweist.

Man könnte jetzt noch über Benns antisemitische Äußerungen in seinen Briefen aus den 30er Jahren diskutieren, über seine anfängliche Bewunderung für den Nationalsozialismus, seine Hoffnung auf eine „neue Welt“ und die „Wende der abendländischen Geschichte“. Ein Mensch, voller innerer Widersprüche, die sich auch in seinen Gedichten widerspiegeln.

Mit lieben Grüßen an das Team UniWehrsEL von einer interessierten Leserin

Danke für Image by Susana Cipriano from Pixabay