Im Archiv des Deutschlandfunks schlummert der Beitrag zu „Ken Jebsen – Vom Jugendidol zum Verschwörungsmystiker„. Kayvan Soufi- Siavash moderierte erfolgreich als Ken Jebsen beim rbb eine eigene Sendung, bis er 2021 als einflussreicher Verschwörungsideologe ein Fall für den Verfassungsschutz wurde. Nach Sperrung seiner Kanäle lebten Jebsens Ansichten und Mythen weiter, wurden im podcast thematisiert unter „Cui bono – what happened to Ken Jebsen?“ Auch Nicola Gess analysiert in „Halbwahrheiten“ unter dem Titel „Die Corona-Verschwörung, oder Der Fall Jebsen“ unter anderem Jebsens Videos. Eines fungiert unter der Überschrift „Gesicht zeigen!“, in dem das fiktionale Element seiner Erzählung nicht nur verstärkt, sondern gewissermaßen auch sichtbar gemacht würde (vgl. Gess, „Halbwahrheiten“, 2022, 79-82).
Ken Jebsen, so Gess, habe zwei Seiten, die des seriösen Journalisten und Vertrauten und die der fiktiven Figur des Comic-Bösewichts „Joker“; statt ernsthafter Ansprache träte irres Grinsen, Hinein- und Hinausgleiten aus dem Bild, vertrauliches Flüstern, misstrauischer Schulterblick. Begleitet würde dies durch abwechselndes Raunen oder schnelles, auditiv überwältigendes Reden über eine Verschwörung. Beispiele dazu seien Bevölkerungsreduktion, gezielte Steuerung der Fruchtbarkeit und geistige Fernsteuerung durch Psychopharmaka (vgl. ebd, 79).

Jebsen kennt offenbar die Figur des „Jokers“ gut, denn er ist im Video geschminkt als der, von Heath Leger verkörperten, Figur aus Christopher Nolans Batman-Verfilmung „The Dark Night“ (2009). Für Nolans Batman, so schrieben wir in unserem Beitrag „Die Nolan Batman Reihe: Urban Legends und Verschwörungsmythen“ ist in „The Dark Knight“ der Joker nicht ein nihilistischer Antagonist, sondern auch eine Figur, die das Konzept der Disruption verkörpert. Disruption bezieht sich auf den Prozess, durch den bestehende Strukturen, Normen und Systeme in Frage gestellt und oft zerstört werden, um Platz für neue Konzepte zu schaffen.
Jebsens Joker verkörpert, so Gess, nicht nur den kapitalismuskritischen und anarchischen Joker, der zur Gewalt gegen die staatliche Ordnung aufrufe, sondern rufe gleichzeitig den, von Joaquin Phoenix gespielten, Joker (2019) aus dem gleichnamigen Film von Todd Phillips ins Gedächtnis.

Der Phoenix-Joker, so beschrieben wir es im UniWehrsEL im Beitrag „Todd Philipps Film Joker „Zum Weiterdenken: Urban Legends und Verschwörungsmythos“ zeigt wie ein missverstandener Möchtegern-Entertainer vom Publikum ausgelacht zum Mörder wird. Der Status des Titelhelden scheint zementiert, und seine Entladung in Gewalt wird nicht als Abweichung, sondern als logische Konsequenz seiner Umstände dargestellt. Die Gewaltorgie, die er entfesselt, führt nicht zu seiner Ablehnung, sondern zu einer Art Führerkult, in dem er als Symbol für den Widerstand gegen das System gefeiert wird. Hier wird die Verbindung zu Verschwörungsmythen deutlich: Der Film vermittelt die Botschaft, dass das demokratische System nicht veränderbar ist und dass ein starker Mann, in diesem Fall der Joker, die einzige Lösung darstellt.
Ken Jebsen, selbst ein frustrierter Entertainer, nimmt, so interpretiert ihn Gess, in seiner Rolle als „Joker“ die Position eines Underdogs ein, analog zum Phoenix-Joker wird er zum geschundenen Individuum, das so lange Erniedrigungen erfahren muss, bis es sich zu wehren beginnt. Er wird zum „Wutbürger“, „der sich aus seinem ewigen Opferstatus befreit mit einer grenzenlosen Gewalt, die die Gesellschaft nur noch zerstören will und die Massen der Frustrierten hinter sich weiß“ (vgl. ebd. 80). Den Wutbürger beschrieben wir auch im Interdisziplinären Gespräch „Wohin mit meiner Wut?„.

Jebsen, so interpretiert Gess weiter, rufe nicht selbst zur Gewalt auf, sei aber durch die Joker-Maske als solcher implizit präsent. Explizit rate er am Ende des Videos zum „zivilen Ungehorsam“ auf, in Anbetracht eines Systems, das kaputt sei und „da sind wir uns alle einig!“ Da erscheint die Bildung einer „außerparlamentarischen Opposition“, die dann einen „neuen Staat“ kreieren könne, „der sich vor allem durch die Entmachtung derjenigen „Eliten“ auszeichnet, die für Jebsen hinter der Verschwörung stecken“, nur folgerichtig (vgl. ebd., 81).
Jebsens politische Strategie gehe von einer Verschwörung „von oben“ aus. Diese Affinität zum Populismus sei den meisten Verschwörungstheorien inhärent. Gess verweist auf die Ausführungen Michael Butters, der Kriterien aufführt wie personalisierende Elitenkritik, radikale Vereinfachung des politischen Feldes („Elite versus „Volk“ – „Verschwörer“ versus „Opfer“), Konservatismus (bedrohte Ordnung bewahren oder wieder herstellen), negative Zeichnung der (von „Eliten“ gesteuerten) Gegenwart. Dieser wird eine vom „Volk“ selbst bestimmten Zukunft entgegengestellt. In der Selbstbestimmung als „Dissident“ wird die vom vermeintlichen Mainstream Verschwörungstheorie noch unterstützt (vgl. ebd., 82). Auch Gess`Kollegin Lea Liese, die über die urban legends, als ein überregionales bis globales „Wanderphänomen“ schreibt, das vermehrt in der weißen anglo-amerikanischen Kultur anzutreffen ist, bezieht sich auf Michael Butter, der über Verschwörungstheorien schreibt und überträgt dies auf urban legends.

Dazu passt auch unser Beitrag zum Roman 1984 und was würde George Orwell heute sagen? In diesem Roman kontrolliert die Regierung, bekannt als „Big Brother“, die Gesellschaft durch Manipulation der Wahrheit. Das „Wahrheitsministerium“ verändert Informationen, um die Macht der Partei zu sichern. Die Bevölkerung wird in Unwissenheit gehalten, was dazu führt, dass sie die Realität nicht mehr hinterfragt und sich der Kontrolle fügt.
Schon Soziologen wie Bruno Latour und Luc Boltanski haben die Affinität zwischen kritischer Gesellschaftstheorie und Verschwörungstheorie und Sozialkritik mit dem Hang zur Paranoia festgestellt. Boltanski zieht Parallelen zwischen Sozialwissenschaften und Kriminalliteratur, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, entstehen und in diese Zeit fällt auch die Entdeckung der Paranoia in der Psychiatrie. Zusammen zeugten sie von einem sich zunehmend verbreitenden Zweifel an der »Realität der Realität«, der als Symptom der Moderne gelten kann.
Darum sei mit Nicola Gess am Ende die Frage gestellt: Wann kippt eine berechtigte Sozialkritik in die paranoide Verschwörungstheorie?
Das Team UniWehrsEL freut sich auf eine Antwort und einen Kommentar zu unserem Beitrag.
Herzlichen Dank für die Impressionen des Jokers auf Pixabay!