Was ist eigentlich die Gefährlichste aller Wahrheiten? Prof. Dr. Nicola Gess, Professorin für Neuere deutsche und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel liefert nicht nur unsere Grundlagenliteratur zum Seminar „Staunen“ im Wintersemester 24_25 an der U3L, sondern sie ist auch Autorin des Buches “Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit“. ‚Halbwahrheiten‘, so lässt sie den Leser wissen, sind perfide, weil sie anders als Lügen eine Scheinevidenz herstellten. Halbwahrheiten würden nicht nur die Unterscheidung zwischen Lügen und Wahrheit erschweren, sondern bestätigten zudem bei ihren Anhängern ein bestehendes Weltbild. Eine ganz besonders perfide Art der Verschwörungstheorien untersuchen Göttinger Forschende. Ihnen geht es um die neuen Technologien, die einen ganz besonderen Nährboden für radikale Meinungen bilden.
So kann man nachlesen, Fehlinformationen im digitalen Umfeld würden florieren und sich viral verbreiten. Amazon Echo und Google Search sowie Gesundheitsapps selbst gerieten zunehmend in den Fokus von Verschwörungstheorien. Das Ausmaß dieser folgenschweren- technologiebezogenen Verschwörungstheorien ist nun in der Zeitschrift Information Systems Research veröffentlicht. Über diese Studie berichten nicht nur die Göttinger Forscher selbst, sondern auch namhafte Zeitschriften wie das Krankenhaus-IT Journal.
Die Autoren beschreiben, nach ihrer Ausgangsbefragung von mehr als 1.000 Personen stehe fest, sechs von zehn verschiedenen technologiebezogenen Verschwörungstheorien sei mindestens 20 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bekannt; fünf von zehn glaubten zumindest zu einem Teil daran. Als Beispiel wurde genannt, die smarten Amazon Echo Lautsprecher würden die sie nutzenden abhören, auch wenn das Gerät ausgeschaltet ist. Es gehe darum, um die Bevölkerung zu manipulieren.
Eine Feldstudie und drei Experimente beschäftigten sich mit Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit der Corona-Warn-App in Deutschland. Zusätzliche Experimente zu einem neu eingeführter smarten Autoassistenzsystem lieferten Erkenntnisse über Technologie bezogener Wahrnehmung und daran anknüpfende Verschwörungstheorien. Dies setze, laut Meinung der Forschenden, einen Teufelskreis in Gang, der eine „Verschwörungsmentalität“ begünstige und dazu beitrage, die Umwelt zunehmend durch die Brille von Verschwörungstheorien zu interpretieren. Dies sei verbunden mit negativen Folgen auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene. Nun gelte es in der Forschung herauszufinden, welche Technologien besonders gefährdet seien, um zum Ziel technologiebezogener Verschwörungstheorien zu werden.
Prof. Dr. Manuel Trenz, Professur für Interorganisationale Informationssysteme an der Universität Göttingen deklariert sogar, wie sehr solche Überzeugungen Denkweise befördern, die eine soziale Zusammenarbeit erschweren. Zudem gäbe es auch Schwierigkeit eines konstruktiven politischen Diskurses im Hinblick auf künftige Krisensituationen.
Gegeben sind also wesentliche politische Implikationen der Studie, so erklärt Simone Trang, ebenfalls eine universitäre Forscherin in Göttingen und Paderborn. Gehe es doch darum, Entscheidungsträger – egal ob Politiker oder Technologieentwickler – für die potenziellen Risiken und langfristigen Folgen zu sensibilisieren.
Damit reagiert die Forschung auf den bereits im Jahr 2022 von Taylor Stevens “Die Pandemie als psychologische Herausforderung“. Ansätze für psychosoziales Krisenmanagement, Gießen 2020 geforderten Anstoß für Forschende, sich mit diesem Thema zu befassen, das sowohl jetzt als auch in Zukunft wichtige Auswirkungen hat. Wir setzten uns in einem unserer Seminare mit dem Titel Krise Entscheidung und Mut zur Veränderung bereits 2022 mit dieser Thematik im sozialpsychologischen Kontext intensiv auseinander.
Weitere Informationen:
https://www.uni-goettingen.de/de/891.html?id=7495
Bild: Verirrt im digitalen Wunderland: Technologiebezogene Verschwörungstheorien sind weit verbreitet. Mit ihnen gehen potenzielle Risiken für die Gesellschaft einher. Abbildung KI-generiert, Universität Göttingen