In unserem Seminar Animal Tiere als Spiegelbilder menschlicher Seelenzustände haben wir bereits vielen Tiere gemeinsam untersucht wie z.B. den Löwen, („Der König der Löwen“), den Tiger (Beitrag „Tiger, wetze nur die Klauen“). Diesmal widmet sich die Analyse einem sehr kleinen Tier – der Ameise. Vermutlich denken Sie bei der Ameise an die berühmte Tierfabel „Die Grille und die Ameise“ vom französischen Schriftsteller Jean de La Fontaine. Dabei geht es um zwei verschiedene Lebenseinstellungen, die der Grille, welche den Moment genießt, und den der fleißigen Ameise, die für den Winter Vorsorge trifft. Besonders die Ameise hat es einem UniWehrsEL Leser angetan.
Sehr geehrte Redaktion des UniWehrsEL,
der Ameise hat der wenig bekannte Komponist Peter Ronnefeld eine Oper im Jahr 1961 gewidmet, die am 14. Dezember an der Oper Bonn Premiere feierte. Die Regie führte Kateryna Sokolova. Dieser menschlichen Ameise widmet sich der Text.
Mit großer Begeisterung habe ich die Oper Die Ameise an der Oper Bonn verfolgt und möchte Ihnen ein paar Gedanken zu diesem außergewöhnlichen Werk mitteilen. Der Titel wirkt zunächst irreführend, doch hinter ihm verbirgt sich in kafkaesker Manier die erschütternde Geschichte des Gesangslehrers Maestro Salvatore und seiner minderjährigen Schülerin Formica – deren lateinischer Name „Ameise“ bereits das ungleiche Machtverhältnis zwischen den beiden Figuren ankündigt.
Der sechzigjährige Gesangslehrer Maestro Salvatore nimmt die sechzehnjährige Formica in sein Haus und bezeichnet sie als sein „Geschöpf“, das ohne seine didaktischen Methoden nicht existiere. Dieses asymmetrische, abhängige Verhältnis kulminiert in Formicas tödlichem Schicksal.
Peter Ronnefeld komponiert eine vielschichtige, farbige Partitur, die von einem Chor begleitet wird, der die Handlung kommentiert und das Volk als kollektiven Beobachter verkörpert. Durch diese musikalische Gestaltung entsteht eine beklemmende Atmosphäre, die die Strukturen von Machtmissbrauch und manipulativer Einflussnahme eindringlich offenlegt.
Ein besonders wirkungsvoller Aspekt des Librettos ist, wenn der opernaffine Zuschauer einen gedanklichen Vergleich mit Hoffmanns Puppe Olympia (Beitrag „Puppen und andere anthropomorphe Wesen„) zieht. Olympia erscheint zunächst dem Zuschauer als ein scheinbar hilfloser Automat, völlig dem Willen ihres Schöpfers ausgeliefert. Doch im Verlauf ihres Auftritts entwickelt Olympia ein Eigenleben. Die Puppe bekommt einen Defekt und rebelliert gegen die Vorgaben ihres Meisters. Die Puppe „geht auf Hoffmann los“, was für das Publikum eine überraschend witzige Wendung darstellt.
Ebenso erinnert die Figurenkonstellation der Abhängigkeit in der Oper die Ameise an Dr. Frankenstein und sein Monster („Frankenstein oder das geschundene Tier„): Frankenstein erschafft ein Wesen, das er kontrollieren will, doch das Monster entwickelt ein eigenes Bewusstsein und stellt die Autorität seines Schöpfers infrage. In allen drei Fällen – Formica, Olympia und Frankensteins Monster – wird die Abhängigkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf sichtbar, und das wachsende Eigenleben des Geschöpfs führt zu einer unvermeidlichen Konfrontation.
(auch erwähnt in unserem Beitrag zu Gerüchten und Verleumdung). Dort tritt der verliebte Graf Almaviva als verkleideter Musiklehrer auf, der Rosina – eine junge, aber nicht minderjährige Studentin – unterrichtet. Der Altersunterschied zwischen Almaviva und Rosina ist gering, sodass ihre leidenschaftliche Beziehung von der Gesellschaft als große Liebe akzeptiert wird.
Im krassen Gegensatz dazu steht Salvatore in der Oper „Die Ameise“, ein 60‑jähriger Mann, dessen obsessive Bindung an die 16‑jährige Formica als absolutes Tabu gilt. Diese Gegenüberstellung wirft die Frage auf, wie gesellschaftliche Normen und Altersdifferenzen die Bewertung von Lehrer‑Schüler‑Beziehungen prägen: Während Almaviva als romantischer Held gefeiert wird, wird Salvatore zum Symbol für Pädophilie und Machtmissbrauch. Die Oper nutzt diese Gegenüberstellung, um zu verdeutlichen, dass die moralische Bewertung nicht allein vom Alter, sondern vom Machtgefälle und der Ausbeutung abhängt.
Spontan erinnert das auch an die Geschichte von Ruth (unser Beitrag zu „Wo die Worte fehlen). Ruth spielt in St. Peterburg am Ende des 19. Jahrhunderts und jeder weiß, dass sie autobiographische Züge zum Leben Lou Andreas-Salomé hat, denn auch in ihrem Leben gab es einen Lehrer, für den sie vorübergehend schwärmerische Gefühle entwickelt hatte, der sie heiraten und für sie Frau und Kinder verlassen wollte.
Der Höhepunkt der Oper – die Gerichtsverhandlung, in der Salvatore neben der Leiche seiner Schülerin gefunden wird – lässt den Zuschauer die erdrückende Beweislast spüren. Noch erschreckender ist die Szene im Gefängnis, in der der Maestro eine Ameise dressiert und ihr das Singen beibringt, um sie nach seiner Entlassung als Star einer Revue zu präsentieren. Das tragische Ende, als ein Kellner die Ameise zertritt, und damit das von Salvatore geschaffene „Kunstwerk“ vernichtet, verdeutlicht die Zerbrechlichkeit von Opfern, die in die Hände eines dominanten Lehrers gedrängt werden.
Peter Ronnefeld und Librettist Richard Bletschacher haben mit diesem Werk einen bislang kaum beachteten Aspekt des Musikunterrichts aufgegriffen: Im Einzelunterricht von Sängerinnen und Musikern können toxische Abhängigkeitsverhältnisse entstehen, weil das Machtgefälle zwischen einem charismatischen Lehrer und einer schwärmerisch‑ergebenen Studentin enorm ist. Heute haben viele Musikhochschulen Strukturen entwickelt, um solchen Machtmissbrauch entgegenzuwirken, doch die Oper erinnert eindringlich daran, wie gefährlich das Ungleichgewicht sein kann, wenn es nicht kontrolliert wird.
Die Regie von Sokolova stellt Fragen zu interessanten Themen nach der Einsamkeit des Einzelnen und die Rolle der Öffentlichkeit. Der Chor spielt eine wichtige Rolle, die der öffentlichen Meinung. Diese ist sehr begeistert von dem Prozesss. Es tritt auf die weinende Mutter von Formica als Zeugin. Staatsanwalt und Vertreidiger – in Sprechrollen liefern sich einen packenden Kampf um die Deutung des Todes von Formica.
Der erste Akt ist also sehr unterhaltsam, obwohl der Zuschauer nichts über die Beziehung zwischen Lehrer und Schülerin erfährt.
Im zweiten Akt sitzt der Lehrer nun im Gefängnis. Nun kommt es zu einem Verwirrspiel und einer Doppelung. Zum einen sieht der Zuschauer das Training der Ameise versteht aber auch dass die Ameise für die Beziehung zwischen Formica und dem Lehrer steht. Mit dem Training der Ameise kommen die Erinnerungen an die Schülerin Formica in dem Bewusstsein des Lehrers zurück.
Durch die Einbindung surrealer Bilder, den Vergleich mit Olympia, das Motiv von Frankensteins Monster und die Anspielung auf Der Barbier von Sevilla wird das Thema noch weiter vertieft. Alle Beispiele zeigen, dass ein Schöpfer, der sein „Geschöpf“ nur als Mittel zum Zweck sieht, unvermeidlich zum Untergang führt, sobald das Geschöpf eigene Entscheidungen trifft.
Die Ameise ist ein mutiges, provokantes Werk, das nicht nur künstlerisch, sondern auch gesellschaftlich wichtige Fragen aufwirft. Es fordert das Publikum auf, über die Verantwortung von Lehrenden nachzudenken und die Strukturen zu stärken, die Schutz vor Machtmissbrauch bieten.
Mit freundlichen Grüßen
Ein Ameisenfreund und Opernliebhaber
Danke für den Beitrag unddie bilder von Pixaby, die auch in anderen Beiträgen verwendet wurden. Neu ist das Bild von mansurtlyakov1 auf Pixabay und Bild von Vedran Hasanagic auf Pixabay
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