Oper Frankfurt „Boris Godunow“ – eine ‚tierische‘ Interpretation
Die Oper Frankfurt präsentiert im November eine Inszenierung von Keith Warner zu Boris Godunow: „1825 verfasste Alexander S. Puschkin ein Politdrama, das die inneren Unruhen im Russland des frühen 17. Jahrhunderts aufgreift. Der Komponist kürzte Puschkins Bilderfolge und verlieh den lose miteinander verknüpften Massen- und Kammerspielszenen durch ihre Nähe zur russischen Volks- und Kirchenmusik ein nationales Klangkolorit.“ I. Burn hat die Veranstaltung besucht und für uns kommentiert.
Sehr geehrte Damen und Herren,
„ein von Schuldgefühlen gequälter Herrscher, machtgierige Intriganten, ein geschundenes Volk und ein Mönch, der im wahrsten Sinne des Wortes »Geschichte schreibt«. Keith Warner inszeniert Mussorgskis »musikalisches Volksdrama« und Thomas Guggeis dirigiert das Epos in der Orchestrierung von Dmitri D. Schostakowitsch.“so kann man es im Blog der Oper Frankfurt nachlesen.
Nach der Vorstellung am 09. November 2025 von Boris Godunowmöchte ich meine Eindrücke schildern. Beim Betrachten der Oper Boris Godunow kam mir sofort die Idee, den Gegenspieler Dimitri mit einem Schwein zu vergleichen.
Schweine gelten als Allesfresser, die sich schnell an unterschiedliche Nahrungsquellen anpassen, besitzen ein starkes Instink- und Überlebensverhalten, zeigen jedoch gleichzeitig ein hohes Maß an sozialem Verhalten innerhalb ihrer Gruppe und können sehr agressiv werden, wenn ihr Revier oder ihre Nahrung bedroht ist. Sie haben zudem ein geringes Selbstbewusstsein gegenüber überlegenen Tieren, während sie in ihrer eigenen Gruppe ein Rangordnungssystem etablieren.
Übertragen auf Dimitri wird deutlich, dass er – wie das Schwein – sich opportunistisch jeder Gelegenheit bedient (politische Allianzen, sexuelle Verführungen) und dabei seine instinktiven Machtgelüste ungezügelt auslebt. Seine Fähigkeit, sich in verschiedenen Rollen (Mönch, Chronist, falscher Thronfolger) zu Recht zu finden, entspricht der Anpassungsfähigkeit des Schweins an neue Nahrungsquellen. Gleichzeitig agiert er innerhalb des „Stalls“ der polnisch‑russischen Höflinge mit einer klaren Rangordnung, wobei er aggressiv und rücksichtslos jeden eliminiert, der seinen Aufstieg zum Zaren gefährdet – ein Spiegelbild der territorialen Aggression des Schweins.
Dieser Eindruck entsteht im dritten Akt, dem sogenannten Polenakt, in dem Dimitri seiner wilden Leidenschaft nachgeht. Dort umgarnt er die polnische Gräfin Marina Mnischek, die er zu einem Teil seiner Wahnvorstellungen macht, indem er behauptet, der ermordete Thronfolger zu sein. Die Begegnung mit Marina weckt in ihm nicht nur politische Ambitionen, sondern ein starkes, fast animalisches Begehren.
In der ersten Szene, in der der Zuschauer Dimitri begegnet, ist er noch ein zwanzigjähriger, eifrig lernender Mönchsanwärter. Schon hier zeigt er sich als äußerst ehrgeizig und karriereorientiert. Beim Schreiben einer Chronik über Russland entwickelt er die Idee, nicht nur Geschichte zu beschreiben, sondern sie selbst zu gestalten, indem er einfach behauptet, er sei ein bedeutender Akteur – ein verderbter, egomanischer, boshafter Hochstapler.
Im ersten Akt wird Dimitri zum Schwein, als er auf dem Weg zur litauischen Grenze einen Priester bei einer Soldatenkontrolle anklagt und behauptet, dieser sei der gesuchte Mann, der aus dem Kloster geflohen sei. Der Priester wehrt sich, ringt mit den Soldaten um sein Leben, während Dimitri den Befehl der Soldaten überliest und über die Grenze dringt. Diese Szene ist für mich eine einzige Machtanalyse: Was sind Menschen bereit zu tun, um sich Macht zu sichern?
Dimitris Verhalten illustriert, wie unreflektierte Triebe (Sexualität, Ehrgeiz) zu einer Verstärkung der eigenen Verderbtheit führen. Das Schwein steht hier symbolisch für gieriges, unkontrolliertes Begehren, das die menschliche Rationalität überlagert.
Ein besonders eindrücklicher Vergleich entsteht, wenn man Dimitri mit Napoleon, dem Schwein aus George Orwells Animal Farm (auch im UniWehrsEL „Vom Hund aufs Schwein gekommen“), gegenüberstellt. Napoleon nutzt seine tierische Gestalt, um Gier, Lügen und Gewalt zu verkörpern und seine Herrschaft zu festigen. Ebenso spürt Dimitri einen Instinkt für „gute Gelegenheiten“ und nutzt jede Situation, um seine Position zu festigen. Beide Figuren behaupten, etwas zu sein, das sie nicht sind – Napoleon der „große Führer“, Dimitri der legitime Thronfolger – und beide setzen Täuschung und Propaganda ein, um ihre Macht zu sichern.
Wie Napoleon die anderen Tiere ausbeutet, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, nutzt Dimitri Marina Mnischek, um seine sexuelle und politische Begierde zu befriedigen. Die Parallele verdeutlicht, dass das Schwein in diesem Kontext nicht nur ein Bild, sondern ein psychologischer Spiegel ist, der die verderbte, egomanische und boshafte Natur des Machtstrebenden reflektiert.
Die Mnischek‑Familie betreibt aktiv Zuhälterei. Marinas sexuelle Anziehungskraft wird wie ein Lockvogel eingesetzt, um den Platz als neue Zarin zu sichern. Der Einfluss ihres Vaters, ein wohlhabender Patrizier, wirkt wie ein Rudelführer, der das gesamte polnische Volk in die Intrige hineinzieht. Ein Zitat von Susan Sontag, dass alle Kriege irgendeinem Schlafzimmer beginnen, verdeutlicht für mich die Verknüpfung von Macht, Religion und Sex, die in dieser Szene deutlich wird.
Der falsche Dimitri, sein Gegenspieler, ist eine Mischung aus Abenteurer und Schlaukopf
Er strebt nach Macht, weil er einen Instinkt für gute Gelegenheiten wittert und sich von den Polen für deren Zwecke einspannen lässt. Die Verführungsszene, die mich an Hoffmanns Erzählungen erinnert, zeigt Marina als Kurtisane. In Hoffmanns Erzählungen, insbesondere im „Venedig‑Akt“, tritt die Kurtisane Giulietta als listige Verführerin auf, die dem Dichter Hoffmann nicht nur das Herz, sondern auch sein Spiegelbild raubt – ein Symbol für die eigene Identität und das Selbstbild. Für diesen Diebstahl erhält sie einen funkelnden Diamanten, ein Zeichen dafür, dass ihr Verrat zugleich ein lukratives Geschäft ist.(auch Beitrag „Hoffmanns Erzählungen – Facetten des Bösen im Wandel“)
Marina Mnischek spiegelt Giulietta in mehrfacher Hinsicht. Auch sie wird von einem kirchlichen Würdenträger beauftragt, den falschen Zarensohn Dimitri zu verführen, und ihr Reiz dient nicht allein einer privaten Leidenschaft, sondern einem politischen Zweck. Wie Giulietta das Spiegelbild – das Selbstverständnis Hoffmanns – übernimmt, spiegelt Marina die Rolle als Katalysator für Dimitris Machtanspruch: Sie reflektiert seine eigenen Ambitionen, verstärkt sie.
Der Diamant, den Giulietta für ihren Betrug erhält, lässt sich auf Marina übertragen, als politisches Kapital, das sie durch ihre Verführung erhält: die Unterstützung der polnischen Elite, das Ansehen der Mnischek‑Familie und letztlich die Möglichkeit, Dimitris Aufstieg zu finanzieren. Beide Kurtisanen nutzen also Schönheit und List, um sich selbst zu bereichern. Während Dimitri das Bett mit der späteren Zarin teilt, ist im Hintergrund der Aufmarsch der polnischen Truppen zu sehen – eine einprägsame Szene, die aufzeigt wie Macht, Sex und Schönheit miteinander verwoben sind.
Es folgt der Wahnsinn Boris Godonows, der in einem Ei sitzt und sich mit dem schlechten Gewissenen als Preis der Macht quält, die anschließende Revolution, die harten Bestrafungen der Kinder des Zaren. Schließlich die Krönung des neuen Zaren, der sich selbst krönt. Am Ende schlüpft ein Narr aus einem Ei und mahnt das Volk, dass es die falsche Wahl getroffen habe – ein Bild, das an das Schlüpfen eines Kükens aus einem Ei erinnert und die Illusion von Neubeginn zerreißt.
Die Oper nutzt das Bild des Schweins und anderer tierischer Metaphern, um die inneren, animalischen Triebe von Dimitri und seiner Umgebung zu offenbaren. Die Parallele zu Napoleons Schwein aus Animal Farm verdeutlicht, dass Gier, Täuschung und Machtmissbrauch universelle, tierische Muster im menschlichen Verhalten sind.
Mit freundlichen Grüßen,
I. Burn
Danke für den BeitragBilder auf Pixabay und das Titelbild von Charly Gutmann auf Pixabay
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