Rilke und der Panther – tierische Deutung im Literaturhaus Darmstadt
Die Universität Freiburg bietet ein Studium generale und dazu kann man nachlesen: „An der Jahreswende 2025/26 berühren sich zwei bedeutende Rilke-Jubiläen: Am 4. Dezember 2025 jährt sich der Geburtstag des 1875 in Prag geborenen Dichters zum 150. Mal, am 29. Dezember 1926, vor 100 Jahren, ist er mit 51 Jahren in Montreux gestorben. Das Studium generale gedenkt des großen Schriftstellers und Lyrikers mit einem Zyklus aus sieben Vorträgen und einem Rezitationsabend, der an wichtige Stationen des Werkes erinnern, nach Rilkes fortdauernder Wirkung fragen und zu erneuter Lektüre ermutigen will.“ Die Rilke-Biographin Sandra Richter, geboren 1973 in Kassel, Professorin für Neuere deutsche Literatur in Stuttgart und seit 2019 Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, findet auch im Literaturhaus Darmstadt große Beachtung. Der Kulturbotschafter des UniWehrsEL beschreibt uns dazu seine Eindrücke.
Sehr geehrte Redaktion des UniWehrsEL,
die Rilke‑Lesung am 18.11. 25 im Literaturhaus Darmstadt war für mich als Teilnehmer des Seminars „Animal -Tiere als Spiegel menschlicher Seelenzustände“ ein besonders eindringliches Erlebnis. Die Veranstaltung verknüpfte Rilkes Lyrik mit seiner Biografie und zeigte am Beispiel des Gedichts der Panther, wie Tiere seit jeher als Spiegel unserer inneren Zustände fungieren.
Für mich war gestern im Literaturhaus Darmstadt Rilkes Umzug nach Paris (1902) von zentraler Bedeutung. Dort wurde er in den Kreis der bildenden Künstler um Auguste Rodin aufgenommen (zu Rodin auch unser Beitrag zu Francesco da Rimini).
Der Gipsabdruck eines Panthers in Rodins Atelier inspirierte Rilke zu dem Gedicht „Der Panther“, das er vermutlich 1902/1903 im Jardin des Plantes schrieb. Dort beobachtete er das Tier im Käfig – ein Motiv, das er bereits in der Prosaskizze „Der Löwenkäfig“ vorarbeitete. Die vierzeilige Strophe beschreibt, wie das Tier „seine glatten, kraftvollen Schritte / im Kreis dreht“ und dabei „die Augen / wie ein Bild im Staub“ verliert.
In der Natur steht der Panther für ungezähmte Kraft, Eleganz und das souveräne Jagen. Er ist ein Meister der Schnelligkeit, seine Bewegungen sind präzise und lautlos. Seine Fellzeichnung dient der Tarnung, sein Blick ist fokussiert. Rilke überträgt diese Eigenschaften jedoch auf einen Gefangenen, dessen natürliche Energie durch die Gitterstäbe erstickt wird. Der Panther wird zum Symbol für innere Gefangenschaft: ein Tier, das seine ursprüngliche Bestimmung nicht ausleben kann und dessen Blick sich in eine starre, fast resignierte Leere verwandelt. Auf den ersten Blick wirkt das Bild als reine Metapher für innere Gefangenschaft, doch ein genauerer Blick auf die historischen Machtverhältnisse und Rilkes persönliche Erfahrung eröffnet eine tiefere, politisch‑psychologische Lesart.
Rilke wuchs in einer Familie auf, die für ihn eine Offizierskarriere vorgesehen hatte. Von 1886 bis 1891 besuchte er die Militärschule in St. Pölten und anschließend die Militär‑Oberrealschule in Mährisch‑Weißkirchen. Die strenge Disziplin, die körperlichen Anforderungen und die hierarchischen Strukturen des Militärs stellten für den sensiblen Jungen eine unüberwindbare Belastung dar; aus gesundheitlichen Gründen musste er die Ausbildung abbrechen. Die Erfahrung, in ein System gezwängt zu werden, das von Rang, Gehorsam und körperlicher Unterwerfung geprägt ist, prägte sein Bild von Macht als etwas, das das Individuum erstickt.
Der Panther im Gedicht spiegelt genau diese Erfahrung wider. Der Käfig ist das Symbol einer autoritären Ordnung, die das Tier – und damit den Menschen – auf ein enges, vorherbestimmtes Bewegungsfeld reduziert. Die „glatten, kraftvollen Schritte“, die sich zu einem endlosen Kreis verdichten, verdeutlichen, wie die körperliche Kraft des Panthers durch die Gitterstäbe neutralisiert wird; die Energie bleibt vorhanden, findet jedoch keinen Ausdruck. Rilkes eigene körperliche Schwäche in der Militärschule lässt sich mit dem Bild des „erstarrenden Blicks“ des Panthers vergleichen: Beide erleben, dass das, was sie einst als Stärke definierten (Körper, Disziplin, Gehorsam), plötzlich zur Quelle der Ohnmacht wird.
Die Machtstrukturen, die Rilke in seiner Jugend erlebte, finden im Gedicht eine weitere Dimension: Der Panther ist nicht nur ein Individuum, das von äußeren Gitterstäben gefangen wird, sondern er steht für ein gesamtes System, das seine Subjekte durch rigide Regeln und Hierarchien kontrolliert. Die „Blicke, die wie ein Bild im Staub“ werden zu einem Bild für die Entfremdung des Individuums von seiner eigenen Wahrnehmung, wenn es permanent den Erwartungen einer übergeordneten Ordnung ausgesetzt ist. Die Metapher des Panthers macht damit deutlich, dass Macht nicht nur von außen (Gitter) ausgeübt wird, sondern auch von innen – durch die innere Akzeptanz des eigenen Eingesperrtseins.
Rilkes spätere Flucht aus dem militärischen Umfeld hin zu einer künstlerischen Laufbahn kann als Versuch gelesen werden, den „Käfig“ zu verlassen und die eigene Kraft wieder zu aktivieren. In Der Panther bleibt jedoch die Frage offen, ob das Tier jemals wieder frei laufen kann. Diese Ambivalenz spiegelt Rilkes eigenes Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach künstlerischer Freiheit und der unauslöschlichen Prägung durch frühere Machtstrukturen wider.
Besonders hervorzuheben ist in Sandra Richters Vortrag über die neue Biografie der Schwerpunkt auf die Bedeutung der Frauen in Rilkes Leben. Als Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach präsentierte Frau Richter dem Darmstädter Publikum ihr neues Buch Rainer Maria Rilke oder das offene Leben, das auf bislang unbekannten Archivrecherchen aus dem 2022 erworbenen Rilke‑Archiv beruht und exklusives Bildmaterial enthält.
Richter zeigte, dass Rilke nicht nur von künstlerischen Visionen, sondern vor allem von seinen „Wahlmüttern“ – Lou Andreas‑Salomé, Prinzessin Marie von Thurn und Taxis, Clara Westhoff und weiteren einflussreichen Frauen – finanziell, emotional und intellektuell unterstützt wurde. Diese Frauen waren für ihn nicht nur Musen, sondern auch entscheidende Förderinnen, deren Briefwechsel und persönliche Gespräche sein poetisches Schaffen maßgeblich prägten.
Die Schauspielerin Karin Klein vom Staatstheater Darmstadt (sie las auch Thomas Manns „Zauberberg„) trug mit einer eindringlichen Stimme, in klarer Sprache ohne Schnörkel und konstantem Blickkontakt zum Publikum dazu bei, Rilkes Texte lebendig zu machen. Ihr Auftritt am Stehpult veranschaulichte, wie die schlichte Darbietung die animalischen Metaphern im Gedicht der Panther noch stärker hervortreten lässt.
Rilkes Leben selbst liefert weitere faszinierende Biografische Daten: geboren 1875 in Prag (damals Österreich‑Ungarn), studierte er in Prag, München und Prag, reiste nach ST. Peterburg (1900) und Sizilien (1907), lebte in München, Berlin Paris und der Schweiz. 1910 heiratete er die Bildhauerin Clara Westhoff, die auch den Kontakt zu Rodin herstellte, 1915 starb seine Geliebte Lou Andreas-Salome. (Salomé begegnen wir auch im Beitrag „Wenn die Worte fehlen“ ). 1926 verstarb Rilke in Montreux.
Seine „Briefe an einen jungen Dichter“ (1902‑1908) – geschrieben an den Offiziersanwärter Franz Xaver Kappus – raten bis heute jungen Kreativen, auf ihr schöpferisches Können zu vertrauen und nicht nur für den Markt zu schreiben.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Kulturbotschafter des UniWehrsEL
Danke für die interessanten Images wie das von Mari Loli auf Pixabay
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