Du betrachtest gerade Teil 1 Wahr oder Lüge? Roman Jenny Erpenbeck „Kairos“ – „Otze Axt“, DDR-Punk als Opernstoff

Über die „DDR“ zu sprechen, fällt der Schriftstellerin Jenny Erpenbeck nicht leicht. Literarisch gelingt es ihr im Roman „Kairos“ (griechisch für richtiger Zeitpunkt, Moment), der über eine fatale Liebesbeziehung zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau in der späten DDR erzählt. – Die Oper „Otze Axt“ des Künstlerkollektivs Dritte Degeneration Ost am Staatstheater Darmstadt vermittelt das Bild der DDR unter der Idee einer Zeit, die über die Individuen hereinbricht und zu Entscheidungen drängt. Danke für Ihre Einblicke, lieber Kulturbotschafter des UniWehrsEl!

Liebes UniWehrsEL,

Beispiele für das Erleben und Verpassen des richtigen Zeitpunktes lassen sich auch in Cinderella 1989 finden, indem sich einem Mädchen aus dem Osten für 24 Stunden die Pforten zum Theater des Westens öffnen. Oder auch in Good Bye Lenin, einer Familien- und Zeitgeschichte, die das Jahr der „Wende“ umspannt und in der einer überzeugten Sozialistin eine alternative Geschichte über das Bestehen der DDR vorgegaukelt wird, weil sie einen wesentlichen Zeitpunkt verpasst hat. Gezeigt wird die DDR nostalgisch, mit positiven Momenten für ihre Protagonisten. „Kairos“ (rechtes Maß, Gelegenheit), ist die Idee einer Zeit, die nicht linear ist, sondern hereinbricht. Was dahinter steckt und mit Entscheidungen zu tun hat, erklärt die bekannte Philosophin Joke Hermsen (dazu auch unser Beitrag zur „vortrefflichen Melancholie“ und Joke Hermsen). Dies lässt sich auch auf den gleichnamigen Roman von Jenny Erpenbeck übertragen.

„Kairos“ – Parallelen im politischen und privaten Niedergang

Kairos“, bedeutet das rechte Maß, die gute Gelegenheit, den günstigen Augenblick zu nutzen. Im Roman „Kairos“ geht es um eine Liebe zwischen Generationen, der 19jährigen Katharina und des 53jährigen Hans. Die private Beziehung zwischen dem Paar, das in unterschiedlichen Zeiten aufgewachsen ist und die DDR aus anderen Perspektiven erlebt hat – Hans, geboren in den 30er Jahren, Katharina in den 60ern – zeigt Paralellen zwischen Politischem und Privatem auf. Erpenbeck sucht die Balance, das richtige Maß zwischen Persönlichem und Allgemeinem zu beschreiben. Findet die Gemeinsamkeiten zwischen Intimen und Politischen, zwischen Zeitgeschichte und Alltag eines mittlerweile verschwundenen Staates: der DDR.

Katharina und Hans suchen in ihrem Leben nach einer Wahrheit, die es so nie gegeben hat. Denn, so Erpenbeck, es habe staatlicherseits eine „Kunstsprache“ gegeben, die immer das Lesen zwischen den Zeilen erfordert habe, das Nachdenken darüber, was gemeint sein könnte. Was ist Lüge, was ist Wahrheit? In der Doppelbödigkeit der Sprache sieht Erpenbeck Parallelen zwischen dem privaten und dem politischen Niedergang.

Wie der DDR-Punker Dieter „Otze” Ehrlich an Stasi und Mauerfall zerbrach

Die Begegnung und das Aus der Beziehung von Katharina und Hans, Ende 1989, spielt vor dem Hintergrund der untergehenden DDR und des Umbruchs 1989.  Im Grenzgebiet, als einen kurzen Augenblick empfunden, verwandelt sich Glück in etwas Verlorenes zwischen Wahrheit und Lüge, von Obsession zu Gewalt.

Während in der Bühnenfassung von Good Bye Lenin und Cinderella am Theater Meiningen die DDR oft nostalgisch und positiv dargestellt wird, zeichnet die Oper Otze Axt des Künstlerkollektivs Dritte Degeneration Ost am Staatstheater Darmstadt ein ganz anderes Bild. Sie beleuchtet die dunklen Seiten des Lebens in der DDR und zeigt die inneren Kämpfe eines Individuums, das in einer repressiven Gesellschaft nach Freiheit und Individualität strebt.

Die Oper Otze Axt spielt in den 1980er Jahren im kleinen Ort Stotternheim in der DDR. Otze, der Protagonist, fühlt sich in seiner täglichen Arbeit im Volkseigenen Betrieb eingesperrt und reduziert auf seine Funktion als Arbeiter. Die Inszenierung am Staatstheater Darmstadt unterstreicht diese beklemmende Atmosphäre, indem Otze in einem Käfig dargestellt wird. Die Sehnsucht nach Freiheit und der Drang nach Individualität treiben Otze dazu, sich von den gesellschaftlichen Erwartungen zu lösen und sich selbst zum Punk zu machen.

Der Begriff Punk beschreibt eine subkulturelle Bewegung, die in den 1970er Jahren entstand. Punks lehnten die konventionelle Gesellschaftsordnung ab und drückten ihre Rebellion durch auffällige Mode, aggressiven Musikstil und unkonventionelles Verhalten aus.

Charakter von Otze im Vergleich zu Alex aus Clockwork Orange

Otze verkörpert den Typus des unangepassten, rebellischen Punks. Seine Aufsässigkeit zeigt sich darin, dass er sich weigert, den monotonen Alltag im Volkseigenen Betrieb zu akzeptieren. Stattdessen fordert er die Autoritäten heraus und sucht nach Wegen, seine eigene Identität auszudrücken. Otze ist unkonventionell, indem er sich bewusst von der Masse abhebt und durch seine auffällige Punk-Mode und sein provokatives Verhalten auffällt. Er ist nonkonformistisch, da er sich weigert, sich den gesellschaftlichen Normen und Erwartungen zu unterwerfen, und stattdessen seinen eigenen Weg geht. Schließlich ist Otze freiheitsliebend, denn seine Sehnsucht nach einem Leben jenseits der engen Grenzen der DDR treibt ihn an, für seine persönlichen Freiheiten zu kämpfen.

Vergleichbar mit Otze ist Alex, der Protagonist aus Clockwork Orange, der ebenfalls durch seine Rebellion und seine Ablehnung gesellschaftlicher Normen auffällt. Beide Charaktere sind auf der Suche nach Identität und Individualität, jedoch unterscheiden sie sich in ihren Motiven und Ausprägungen. Während Alex durch Gewalt und Kriminalität seine Rebellion in Großbritannien der 1970er ausdrückt, kämpft Otze durch seinen Punk-Lebensstil gegen die erdrückenden Strukturen der DDR. Beide Figuren zeigen, wie junge Männer in einer restriktiven Gesellschaft nach Ausdrucksmöglichkeiten suchen und dabei extreme Wege einschlagen können.

Die Welt der Punks und Anerkennung für Otze

In der Welt der Punks findet Otze die Anerkennung und Gemeinschaft, die ihm im Betrieb verwehrt wird. Die Punks schätzen seine Aufsässigkeit und seinen Drang nach Freiheit. Sie bieten ihm einen Raum, in dem er seine Individualität ausleben und Gleichgesinnte finden kann. Hier fühlt sich Otze erstmals verstanden und akzeptiert. Für junge Männer wird Punk zu einem gesellschaftlichen Katalysator, der ihnen ermöglicht, gegen die Konventionen zu rebellieren und ihre eigene Identität zu formen. Punk bietet ihnen ein Ventil für Frustrationen und ermöglicht es ihnen, sich von den Zwängen der Gesellschaft zu lösen.

Wendepunkt: Otze als inoffizieller Mitarbeiter

Der Wendepunkt in Otzes Leben kommt, als er gezwungen wird, seine Freunde aus der Punk-Szene als inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Stasi zu bespitzeln. Diese Situation stellt ihn vor ein enormes moralisches Dilemma. Obwohl er widerwillig zustimmt, um sich selbst zu schützen, quält ihn das Wissen, dass er seine Freunde verraten muss. Otze fühlt sich als Verräter und seine Psyche leidet unter der ständigen Angst und dem inneren Konflikt zwischen Loyalität und Überleben.

Bis dahin herzlichen Dank an den Kulturbotschafter des UniWehrsEL. Dieser Beitrag wird in einem 2. Teil fortgesetzt!

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